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wissenschaftliche Ausbildung angelegen sein. Sie verwenden nämlich den
größten Fleiß darauf, den noch zarten und empfänglichen Kinderherzen von
Anfang an gesunde und der Erhaltung ihres Staates dienliche Anschauungen
einzupflanzen. Wenn diese erst einmal im Kinde festsitzen, begleiten sie den
Erwachsenen durchs ganze Leben und sind von großem Nutzen für die
Erhaltung des Staates; denn was einen Staat zerfallen läßt, sind einzig und
allein die Laster, die ihrerseits wieder aus verkehrten Anschauungen
entstehen.
Die Priester sind mit den erlesensten Frauen ihres Volkes verheiratet,
soweit sie nicht selbst Frauen sind; denn auch die Frauen sind vom
Priestertum nicht ausgeschlossen; aber eine Frau wird seltener gewählt und
auch dann nur, wenn sie verwitwet und betagt ist. Keine Behörde genießt
nämlich bei den Utopiern größere Ehre, und zwar in dem Ausmaße, daß ein
Priester, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen, keinem öffentlichen
Gericht untersteht: Gott allein und sich selbst ist er überlassen. Die Utopier
halten es nämlich für Sünde, den mit Menschenhand zu berühren, und wäre er
auch ein noch so schlimmer Verbrecher, der Gott auf eine so einzigartige
Weise gleichsam als Opfer geweiht ist. Diesen Brauch können sie leichter
einhalten, weil ihre Priester so gering an Zahl sind und mit so großer Sorgfalt
ausgewählt werden. Kommt es doch nur selten vor, daß ein Mann, der, aus der
Zahl der Guten als Bester ausgesucht, allein wegen seiner Tüchtigkeit zu so
hoher Würde erhoben wird, zu Verderbtheit und Lasterhaftigkeit entartet.
Sollte es aber bei der Unbeständigkeit der menschlichen Natur immerhin
einmal vorkommen, so braucht man davon für die Allgemeinheit durchaus
keinen Schaden von großer Bedeutung zu befürchten, da die Zahl der Priester
nur gering ist und sie außer ihrem Ansehen keinerlei Macht besitzen. Die
Utopier beschränken aber die Zahl ihrer Priester deshalb so stark, weil das
Ansehen des Standes, dem sie jetzt so große Verehrung erweisen, nicht
dadurch an Bedeutung verlieren soll, daß sie seine Ehre vielen zuteil werden
lassen, zumal da sie es für schwierig halten, viele Leute zu finden, die
tugendhaft genug zur Bekleidung eines Amtes sind, für dessen Würde eine
nur mittelmäßige Tugendhaftigkeit nicht ausreicht.
Die Wertschätzung der Priester ist bei den auswärtigen Völkern nicht
geringer als bei ihren Landsleuten. Das geht deutlich aus einem Brauche
hervor, den ich auch für den Ursprung dieser Wertschätzung halte. Während
nämlich die Truppen in der Schlacht um die Entscheidung kämpfen, halten
sich die Priester abseits, aber nicht weit entfernt, und liegen in ihren
geweihten Gewändern auf den Knien. Die Hände zum Himmel erhoben, beten
sie zu allererst um Frieden, sodann um Sieg für ihr Volk, aber um einen Sieg,
der für beide Teile nicht blutig ist. Im Falle des Sieges ihres Volkes eilen sie
in den Kampf und gebieten dem Wüten gegen die Geschlagenen Einhalt. Wer
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik