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sie nur sieht und anruft, wenn sie da sind, sichert sich sein Leben; wer ihre
wallenden Gewänder berührt, schützt auch, was ihm sonst noch gehört, vor
jeder kriegerischen Gewalttat. Infolgedessen genießen die Priester bei allen
Völkern ringsum eine so große Verehrung und so viel wirklich majestätisches
Ansehen, daß die Schonung, die sie vom Feinde für ihre Mitbürger erwirkten,
oft nicht geringer war als die, die sie bei diesen für den Feind erreicht hatten.
So viel steht jedenfalls fest: schon manchmal, wenn die Front ihrer
Landsleute ins Wanken geraten war, wenn diese in ihrer verzweifelten Lage
zu fliehen begannen und der Feind zu Gemetzel und Plünderung
heranstürmte, traten die Priester dazwischen, unterbrachen das Blutvergießen,
trennten die Truppen voneinander, brachten unter gerechten Bedingungen
einen Frieden zustande und schlossen ihn ab. Denn noch niemals ist ein Volk
so wild, so grausam und so barbarisch gewesen, daß es ihre Person nicht für
heilig und unverletzlich gehalten hätte.
Als Festtage begehen die Utopier den ersten und letzten Tag eines jeden
Monats und Jahres. Dieses teilen sie in Monate ein, die der Umlauf des
Mondes abgrenzt, wie der Kreislauf der Sonne das Jahr rundet. Alle
Anfangstage heißen auf utopisch »Cynemerner« und die Schlußtage
»Trapemerner«, was etwa soviel wie Anfangs- und Schlußfeste bedeutet.
Man sieht in Utopien prachtvolle Tempel, die nicht bloß mit großer Kunst
gebaut sind, sondern auch eine gewaltige Menschenmenge fassen, was ja bei
ihrer geringen Anzahl auch unbedingt notwendig ist. Gleichwohl sind sie alle
halbdunkel, und zwar soll das nicht auf mangelhafte Kenntnis in der Baukunst
zurückgehen, sondern auf einen Rat der Priester. Nach deren Meinung
nämlich lenkt zuviel Licht die Gedanken ab, sparsameres und gleichsam
unsicheres Licht dagegen trägt zur Sammlung des Geistes und zur Vertiefung
der Andacht bei. Zwar ist in Utopien die Religion nicht überall die gleiche,
aber all ihre, wenn auch verschiedenen und vielfältigen Formen kommen trotz
Verschiedenheit der Wege in einem einheitlichen Ziele zusammen, in der
Verehrung eines göttlichen Wesens. Infolgedessen ist in den Tempeln nichts
zu sehen oder zu hören, was nicht für alle Religionsformen ohne Unterschied
passend erschiene. Einen seiner Sekte etwa eigentümlichen Brauch vollzieht
ein jeder innerhalb seiner vier Wände; den öffentlichen Kult dagegen führt
man in einer Form durch, die keiner Religion etwas von ihren Besonderheiten
nimmt. Daher ist auch kein Götterbild im Tempel zu sehen, so daß es jedem
freisteht, unter welcher Gestalt er sich die Gottheit seinem persönlichen
Glauben gemäß vorstellen will. Sie rufen Gott unter keinem besonderen
Namen an, sondern nur als Mythras, ein Wort, mit dem sie alle
übereinstimmend das eine Wesen göttlicher Majestät bezeichnen, welcher Art
es auch sein mag. Die Gebete, die in Utopien abgefaßt werden, sind auch alle
derart, daß sich jeder ihrer bedienen kann, ohne gegen seinen persönlichen
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book Utopia"
Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik