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Glauben zu verstoßen.
Im Tempel kommen die Utopier an den Schlußfesttagen abends zusammen,
ohne noch etwas zu sich genommen zu haben, um Gott für den Segen zu
danken, den er in dem Jahre oder Monat, dessen letzter Tag dieser Festtag ist,
gespendet hat. In der Frühe des nächsten Tages – denn das ist dann ein
Anfangsfesttag – strömt das Volk in den Tempeln zusammen, um für das
folgende Jahr oder den folgenden Monat, den sie mit dieser Feier beginnen
wollen, Glück und Segen zu erbitten. Ehe man aber an den Schlußfesttagen in
den Tempel geht, werfen sich daheim die Frauen ihren Männern und die
Kinder ihren Eltern zu Füßen und bekennen ihnen ihre Verfehlungen, mag es
sich nun um eine Missetat oder um eine mangelhafte Pflichterfüllung handeln,
und bitten um Vergebung ihrer Schuld. So wird jedes Wölkchen häuslicher
Zwietracht, das etwa aufsteigt, durch solche Abbitte verscheucht, und man
nimmt reinen Herzens und unbeschwerten Sinnes am Gottesdienst teil. Man
scheut sich nämlich, mit verstörtem Sinn dem Gottesdienst beizuwohnen. Ist
man sich deshalb bewußt, Haß oder Zorn gegen jemand zu hegen, so geht
man erst dann wieder zum Gottesdienst, wenn man sich versöhnt und von den
Leidenschaften gereinigt hat, weil man sonst eine schnelle und schwere Strafe
fürchtet. Im Tempel angekommen, gehen die Männer auf die rechte und die
Frauen gesondert auf die linke Seite. Dann nehmen sie in der Weise Platz, daß
die männlichen Mitglieder eines jeden Hauses vor dem Familienvater sitzen,
die Familienmutter aber die Reihe der weiblichen Mitglieder schließt. Auf
diese Weise können sämtliche Bewegungen aller Hausgenossen außerhalb des
Hauses von denen beobachtet werden, deren Autorität und Zucht sie auch
innerhalb des Hauses unterstehen. Ja, die Utopier sehen auch gewissenhaft
darauf, daß im Tempel immer ein Jüngerer mit einem Älteren zusammensitzt,
damit nicht die Kinder sich selbst überlassen bleiben und sich nicht während
des Gottesdienstes kindisch und albern benehmen. Denn gerade in dieser Zeit
sollten sie es lernen, fromme Scheu vor den Himmlischen zu hegen, die ja der
stärkste und beinahe der einzige Ansporn zur Tugend ist. Wenn die Utopier
opfern, so schlachten sie kein Tier, und sie können nicht glauben, daß sich
Gott in seiner Güte über Blutvergießen und Morden freut; hat er doch den
Lebewesen das Leben zu dem Zwecke geschenkt, daß sie leben. Sie
verbrennen Weihrauch und ebenso anderes Räucherwerk; auch stecken sie
zahlreiche Wachskerzen auf, nicht als ob sie nicht wüßten, daß das Wesen
Gottes dieser Dinge nicht bedarf, ebensowenig wie ja auch der Gebete der
Menschen, aber sie finden Gefallen an dieser harmlosen Art Gottesverehrung,
und die Menschen fühlen, daß diese Düfte, Lichter und sonstigen
Feierlichkeiten sie irgendwie innerlich aufrichten und zur Verehrung Gottes
freudiger stimmen. Im Tempel trägt das Volk weiße Gewänder, der Priester
dagegen buntfarbige, die nach Arbeit und Form Bewunderung verdienen; nur
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book Utopia"
Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik