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die richtigste sein, so möge ihm Gott Beständigkeit verleihen und die anderen
Menschen alle zu denselben Lebensgrundsätzen und zu derselben Vorstellung
von Gott bekehren, falls er nicht in seinem unerforschlichen Willen auch an
dieser Mannigfaltigkeit der Bekenntnisse Gefallen finde. Endlich bittet er
noch darum, Gott möge ihn nach einem leichten Tode in sein Reich
aufnehmen; wie bald oder wie spät, das wage er nicht im voraus zu
bestimmen. Immerhin werde es ihm, soweit es ohne Verletzung der göttlichen
Majestät möglich sei, viel lieber sein, auch den schwersten Tod zu erleiden,
um eher zu Gott zu kommen, als durch das glücklichste Leben länger von ihm
ferngehalten zu werden. Nach diesem Gebet werfen sich alle abermals zu
Boden und erheben sich bald darauf wieder, um zum Essen zu gehen; den
Rest des Tages verbringen sie mit Spielen und militärischer Ausbildung.
Ich habe euch so wahrheitsgemäß wie möglich die Form dieses Staates
beschrieben, den ich bestimmt nicht nur für den besten, sondern auch für den
einzigen halte, der mit vollem Recht die Bezeichnung »Gemeinwesen« für
sich beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl
spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopien,
dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um
das Interesse der Allgemeinheit, und beide Male geschieht es mit Fug und
Recht. Denn wie wenige in anderen Ländern wissen nicht, daß sie trotz noch
so großer Blüte ihres Staates Hungers sterben würden, wenn sie nicht auf
einen Sondernutzen bedacht wären! Und deshalb zwingt sie die Not, eher an
sich als an ihr Volk, das heißt an andere, zu denken. Dagegen hier, in Utopien,
wo alles allen gehört, ist jeder ohne Zweifel fest davon überzeugt, daß
niemand etwas für seinen Privatbedarf vermissen wird, wofern nur dafür
gesorgt wird, daß die staatlichen Speicher gefüllt sind. Denn hier werden die
Güter reichlich verteilt, und es gibt keine Armen und keine Bettler, und
obgleich niemand etwas besitzt, sind doch alle reich. Könnte es nämlich einen
größeren Reichtum geben, als völlig frei von jeder Sorge, heiteren Sinnes und
ruhigen Herzens zu leben, nicht um seinen eigenen Lebensunterhalt ängstlich
besorgt, nicht gequält von der Geldforderung der jammernden Gattin, ohne
Furcht, der Sohn könne in Not geraten, ohne Angst und Bange um die Mitgift
der Tochter, sondern unbesorgt um den eigenen Lebensunterhalt und um den
der Seinen, der Gattin, der Söhne, der Enkel, Urenkel und Ururenkel und der
ganzen Reihe von Nachkommen, so lang, wie sie ein Ehrenmann erwartet? Ja,
diese Fürsorge erstreckt sich sogar in demselben Umfange auf die, die früher
gearbeitet haben, jetzt aber nicht mehr dazu imstande sind, wie auf die, die
jetzt noch arbeiten. Da wünschte ich, es wagte jemand, mit dieser Billigkeit
die Gerechtigkeit anderer Völker zu vergleichen, und ich will des Todes sein,
wenn ich bei ihnen auch nur die geringste Spur von Gerechtigkeit und
Billigkeit finde! Oder ist das etwa Gerechtigkeit, wenn jeder beliebige
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Utopia
- Title
- Utopia
- Author
- Thomas Morus
- Date
- 1516
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 106
- Keywords
- Utopie, Staat, Religion
- Categories
- Weiteres Belletristik