Page - 122 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Umwege auf dem Wege zu mir selbst
Paris, England, Italien, Spanien, Belgien, Holland, dies neugierige Wandern
und Zigeunern war an sich erfreulich und in vieler Hinsicht ergiebig gewesen.
Aber schließlich benötigt man doch – wann wußte ich es besser als heute, da
mein Wandern durch die Welt kein freiwilliges mehr ist, sondern ein
Gejagtsein? – einen stabilen Punkt, von dem aus man wandert, und zu dem
man immer wieder zurückkehrt. Eine kleine Bibliothek hatte sich in den
Jahren seit der Schule angehäuft, Bilder und Andenken; die Manuskripte
begannen sich zu dicken Paketen zu stauen, und man konnte diese
willkommene Last schließlich nicht ständig in Koffern durch die Welt
schleppen. So nahm ich mir eine kleine Wohnung in Wien, aber es sollte
keine wirkliche Bleibe sein, nur ein pied-à-terre, wie die Franzosen so
eindringlich sagen. Denn das Gefühl des Provisorischen beherrschte bis zum
Weltkrieg in geheimnisvoller Weise mein Leben. Bei allem, was ich
unternahm, beredete ich mich selbst, es sei doch nicht das Eigentliche, das
Richtige – bei meinen Arbeiten, die ich nur als Proben auf das Wirkliche
empfand, und nicht minder bei den Frauen, mit denen ich befreundet war.
Damit gab ich meiner Jugend das Gefühl des noch nicht zum Äußersten
Verpflichtetseins und gleichzeitig auch das ›diletto‹ des unbeschwerten
Kostens, Probens und Genießens. Schon in die Jahre gelangt, da andere längst
verheiratet waren, Kinder und wichtige Positionen hatten und mit
geschlossener Energie versuchen mußten, das Letzte aus sich herauszuholen,
betrachtete ich mich noch immer als den jungen Menschen, als Anfänger, als
Beginner, der unermeßlich viel Zeit vor sich hat, und zögerte, mich in
irgendeinem Sinne auf ein Definitives festzulegen. So, wie ich meine Arbeit
nur als Vorarbeit zum ›Eigentlichen‹, als Visitenkarte betrachtete, die meine
Existenz der Literatur bloß ankündigte, sollte meine Wohnung vorläufig nicht
viel mehr als eine Adresse sein. Ich wählte sie absichtlich klein und in der
Vorstadt, damit sie meine Freiheit nicht durch Kostspieligkeit belasten könnte.
Ich kaufte mir keine sonderlich guten Möbel, denn ich wollte sie nicht
›schonen‹, wie ich es bei meinen Eltern gesehen, wo jeder einzelne Fauteuil
seinen Überzug hatte, der nur für Besuche abgenommen wurde. Bewußt
wollte ich vermeiden, mich in Wien festzuwohnen und dadurch
sentimentalisch an einen bestimmten Ort gebunden zu sein. Lange Jahre
schien mir dies Mich-zum-Provisorischen-Erziehen ein Fehler, aber später, da
ich immer von neuem gezwungen wurde, jedes Heim, das ich mir baute, zu
verlassen, und alles um mich Gestaltete zerfallen sah, ist dies geheimnisvolle
Lebensgefühl des Sich-nicht-Bindens mir hilfreich geworden. Früh erlernt,
hat es mir jedes Verlieren und Abschiednehmen leichter gemacht.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286