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Der Kampf um die geistige Brüderschaft
An sich half es nichts, sich zurückzuziehen. Die Atmosphäre blieb
bedrückend. Und ebendeshalb war ich mir bewußt geworden, daß ein bloß
passives Verhalten, das Nicht-Mittun bei diesen wüsten Beschimpfungen des
Gegners nicht zureichend sei. Schließlich war man Schriftsteller, man hatte
das Wort und damit die Pflicht, seine Überzeugungen auszudrücken, soweit
dies in einer Zeit der Zensur möglich war. Ich versuchte es. Ich schrieb einen
Aufsatz, betitelt ›An die Freunde im Fremdland‹, wo ich in gerader und
schroffer Abweichung von den Haßfanfaren der andern das Bekenntnis
aussprach, allen Freunden im Ausland, möge auch jetzt eine Verbindung
unmöglich sein, treu zu bleiben, um mit ihnen bei erster Gelegenheit wieder
gemeinsam am Aufbau einer europäischen Kultur zu arbeiten. Ich sandte ihn
an die gelesenste deutsche Zeitung. Zu meiner Überraschung zögerte das
›Berliner Tageblatt‹ nicht, ihn unverstümmelt abzudrucken. Nur ein einziger
Satz – ›wem auch immer der Sieg zufallen möge‹ – fiel der Zensur zum
Opfer, weil auch der leiseste Zweifel daran, daß Deutschland als
selbstverständlicher Sieger aus diesem Weltkrieg hervorgehen werde, damals
nicht gestattet war. Aber auch ohne diese Einschränkung trug mir der Aufsatz
einige entrüstete Briefe von Überpatrioten ein, sie verstünden nicht, wie man
in einer solchen Stunde noch mit diesen schurkischen Gegnern Gemeinschaft
haben könne. Das kränkte mich nicht sehr. Ich hatte zeitlebens nie die Absicht
gehabt, andere Leute zu meiner Überzeugung zu bekehren. Es war mir genug,
sie bekunden, und zwar sichtbar bekunden zu dürfen.
Vierzehn Tage später, ich hatte jenen Aufsatz beinahe schon vergessen,
fand ich, mit Schweizer Marke versehen und mit dem Zensurstempel
geschmückt, einen Brief, den ich schon an den vertrauten Schriftzügen als
von der Hand Romain Rollands erkannte. Er mußte den Aufsatz gelesen
haben, denn er schrieb: »Non, je ne quitterai jamais mes amis.« Ich verstand
sofort, daß die wenigen Zeilen einen Versuch machen wollten, festzustellen,
ob es möglich sei, während des Krieges mit einem österreichischen Freunde
in briefliche Verbindung zu treten. Ich antwortete ihm sofort. Wir schrieben
einander von nun ab regelmäßig, und dieser Briefwechsel hat sich dann mehr
als fünfundzwanzig Jahre fortgesetzt, bis der Zweite Krieg – brutaler als der
Erste – jede Verbindung zwischen den Ländern abriß.
Dieser Brief war einer der großen Glücksmomente in meinem Leben: wie
eine weiße Taube kam er aus der Arche der brüllenden, stampfenden,
tobenden Tierheit. Ich fühlte mich nicht mehr allein, sondern endlich wieder
gleicher Gesinnung verbunden. Ich empfand mich bestärkt durch Rollands
überlegene Seelenstärke. Denn über die Grenzen hinweg wußte ich, wie
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286