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18 Einleitung
wissenschaftlich diskutiert ; sie blieben wegen ihres – sich klaren Schemata entzie-
henden und immer im Rufe der Simulation stehenden – Charakters ein Dauerthema
der Kriegsopferversorgung. Im Gegensatz zu kriegsbedingten Verwundungen waren
sie jedoch stets „minderwertig“ und ihre Anerkennung setzte sich nur langsam durch.
Die sogenannten Kriegszitterer hatten geringere Chancen, eine staatliche Rente zu
erhalten, als die körperlich Beschädigten. Im Diskurs der Ärzte und Gutachter spielte
auch der Begriff der „Rentenneurose“ eine große Rolle
– ein Fachterminus, der die Be-
handlungsunwilligkeit von Rentenbeziehern in eine Angst vor Schmälerung der Be-
züge umdeutete und den Betroffenen unterstellte, im Status der Invalidität verharren
zu wollen.12 Insgesamt schuf das Begutachtungssystem ein differenziertes, Symptome
und Krankheitszustände genau analysierendes und vor allem auch quantifizierendes
Bild des Leids von Kriegsbeschädigten.
Die Versorgung der Invaliden, ihre Reintegration in das Zivilleben sowie die mate-
rielle Absicherung der Witwen und Waisen wurden seit dem Ersten Weltkrieg in ganz
Europa zu einer zentralen Aufgabe staatlicher Sozialpolitik. Vergleichbares hatten zu-
vor nur die USA erlebt : Die hohen Opferzahlen, die der Amerikanische Bürgerkrieg
(1861–1865) forderte,13 veranlassten die USA schon viel früher als die europäischen
Staaten zu einer Neustrukturierung der Kriegsopferversorgung. Das Versorgungssys-
tem, das in der Folge für die aufseiten der Unionisten kämpfenden Soldaten bzw. ihre
Angehörigen geschaffen wurde, bildete den Ausgangspunkt für das US-amerikani-
sche Pensionssystem.14 Diese Entwicklung sollte sich in anderen Staaten wiederholen.
Denn grundsätzlich dürfte die staatliche Versorgung von Kriegsbeschädigten in vielen
Ländern Vorbildfunktion für die Versorgung der gesamten Bevölkerung gehabt haben :
Die Entwicklung der staatlichen Sozialfürsorge von der Gewährung reiner Almosen
hin zu einem rechtlich garantierten Anspruch wurde hier vorweggenommen.
Die Ausgangsthese dieser Studie lautet daher : Die Wurzel moderner staatlicher
Sozialpolitik – einer Sozialpolitik, die tatsächlich die gesamte Gesellschaft ins Visier
nimmt
– liegen in der Kriegsopferversorgung des Ersten Weltkrieges. Diese These wird
12 Der Konflikt um die Rentenneurose ist nicht neu, er war jedoch auf Diskurse rund um die Unfallver-
sicherung beschränkt und fand nun, im Ersten Weltkrieg, in der Kriegsopferfürsorge einen „weiteren
Austragungsort“ ; siehe Greg A. Eghigian, Die Bürokratie und das Entstehen von Krankheit. Die Politik
und die „Rentenneurosen“ 1890–1926, in : Jürgen Reuleke/Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen
(Hg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik
im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 203–223, hier S. 214.
13 Er kann als erster „moderner“ oder „totaler“ Krieg bezeichnet werden ; Stig Förster (Hg.), An der
Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939, Pader-
born 2002.
14 Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the United
States, Cambridge, Mass.-London 1995.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918