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60 Die Gesetzgebung der Monarchie
Demgegenüber hängen aber Staatsbürgerschaft und allgemeine Wehrpflicht ganz
eng zusammen. Die Wehrpflicht würde kein vermittelndes Heimatrecht benötigen,
um durchgesetzt zu werden. Es ist aber umgekehrt kaum vorstellbar, dass der Staat
den direkten Zugriff auf die gesamte – männliche – Bevölkerung erlangen konnte,
ohne vorher ein Konzept gehabt zu haben, das es erlaubte, allgemein zu formulieren,
wie diese „Bevölkerung“ definiert ist – auch wenn dieses Konzept im Fall Österreichs
im Wesentlichen nicht mehr sagte als, dass alle in einer österreichischen Gemeinde
heimatberechtigten Personen per definitionem österreichische Staatsbürger sind. Der
direkte Bezug zwischen Individuum und Staat drückt sich im abstrakten Prinzip der
Staatsbürgerschaft aus und manifestiert sich unmittelbar in der Einführung der allge-
meinen Wehrpflicht. Dieser Bürgerspflicht steht aber die Pflicht des Staates gegenüber,
dem Bürger seinen Einsatz abzugelten. Damit stellt dieses System den Ausgangspunkt
für eine völlig neue Form staatlichen Handelns dar : In dem Maß, in dem der Staat
seine Bürger in die Pflicht nahm, musste er diesen auch etwas dafür geben. Dieser Zu-
sammenhang dürfte ein zwangsläufiger sein. Er führte dazu, dass das
– wenngleich erst
rudimentär ausgeprägte – System zur Versorgung von erwerbsunfähigen ehemaligen
Soldaten bzw. von Hinterbliebenen gefallener Soldaten erstmals eine Sozialleistung
darstellte, die direkt aus dem staatlichen Budget zu bestreiten war. Ein Kritiker des
Versorgungssystems im Ersten Weltkrieg brachte es auf den Punkt : „Als Grundsatz
für die Kriegsfürsorge hat der Gedanke zu gelten, daß allgemeine Wehrpflicht und
allgemeine Fürsorgepflicht unzertrennliche Begriffe sind.“28 Unterstrichen wird die
Bedeutung und Außergewöhnlichkeit dieser unhinterfragten staatlichen Zuständig-
keit dadurch, dass sich der österreichische Gesetzgeber bei der Schaffung der Arbeiter-
schutzgesetze – insbesondere des Unfall- und des Krankenversicherungsgesetzes29 –,
deren Realisierung wie die der hier beschriebenen Militärversorgungsgesetze ebenfalls
in die 1880er-Jahre fiel, von Anfang an massiv gegen jegliche Beteiligung des Staates
an der Finanzierung des Versicherungssystems aussprach.30
Damit markiert das Versorgungssystem für Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene
mit all seinen Defiziten aber nichts Geringeres als den Beginn des modernen Sozi-
alstaates. Diese Behauptung mag angesichts der Lücken- und Mangelhaftigkeit des
28 Gustav Marchet, Die Versorgung der Kriegsinvaliden und ihrer Hinterbliebenen, Warnsdorf i.B. 1915,
S. 27. Eine Stimme aus Deutschland ist Siegfried Kraus, Die Kriegsinvaliden und der Staat, München
1915, hier S. 5.
29 RGBl 1888/1 ; RGBl 1888/33.
30 Die Weigerung ging so weit, dass selbst eine Ausfallshaftung für die Versicherungsanstalten äußerst
umstritten war. Damit stand Österreich ganz im Gegensatz zum Deutschen Reich, wo Bismarck die
Wichtigkeit einer finanziellen Beteiligung des Staates am Versicherungssystem hervorhob ; Herbert
Hofmeister, Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Österreich, Berlin 1981, S. 20, S. 85.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918