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78 Die Gesetzgebung der Monarchie
niedrig zu halten, schließlich wurde ein Kompromiss gefunden und ein Gesetz erlassen,
das die komplizierte Verordnung von 1915 gänzlich aufhob.84
Abgesehen von der deutlichen Erhöhung der nun in „Zuwendungen“ umbenannten
staatlichen Unterstützungen war die entscheidendste Neuerung gegenüber der Regelung
von 1915 zweifellos die Aufweichung der Definition des Begriffes der Bedürftigkeit.
Bedürftigkeit blieb formal zwar nach wie vor als Voraussetzung für die Gewährung der
staatlichen Zuwendungen bestehen, für einen Kriegsbeschädigten galt sie nun aber ohne
weitere Prüfung als erwiesen, wenn seine Angehörigen Unterhaltsbeiträge im Sinne des
Gesetzes von 1917 bezogen.85 Da das Unterhaltsbeitragsgesetz von 1917 aber festgelegt
hatte, dass Personen, die gemäß ABGB alimentationsberechtigt sind, automatisch auch
berechtigt seien, die Unterhaltsbeiträge weiter zu beziehen, wurde die neu normierte
Zuwendung bei einer sehr großen Gruppe von Kriegsbeschädigten de facto von einer
Fürsorgeleistung zu einem Anspruch umdefiniert. Bezeichnenderweise verwendete der
Berichterstatter, der dem Abgeordnetenhaus die im Ausschuss ausgearbeitete Geset-
zesvorlage vorstellte – es war neuerlich Otto Glöckel –, in seiner Rede mehrmals den
Begriff der Rente anstatt des im Gesetz vorgesehenen Begriffes der Zuwendung.86
Für alle anderen Anspruchswerber (Soldaten ohne eigene Familie) galt die Bedürf-
tigkeit dann als gegeben, „wenn der Lebensunterhalt ohne die Zuwendung gefährdet
wäre“, wobei der Begriff des Lebensunterhalts noch präzisiert wurde : Neben Nahrung,
Wohnung, Kleidung „und dergleichen unabweisliche Lebensbedürfnisse“ seien auch
Heil- und Pflegekosten sowie bei Kindern die Kosten der Erziehung zu berücksichti-
gen.87 Auch das stellte eine Weiterentwicklung gegenüber der völligen Unbestimmt-
heit des Begriffes der Bedürftigkeit in der Verordnung von 1915 dar. Angehörige
hatten auf die Zuwendungen allerdings weiterhin nur dann Anspruch, wenn sie die
Unterhaltsbeiträge nicht weiterbezogen.88
Die Debatte vor der Beschlussfassung des Gesetzes im Abgeordnetenhaus beweist
in sehr anschaulicher Weise, wie tief die oben beschriebene Selbstverpflichtung des
84 RGBl 1918/119. Ein Ergebnis des Kompromisses war, dass die bisherige Einstufung der Invalidität
(20–50 %, 50–100 %, völlige Arbeitsunfähigkeit) durch folgende Abstufung ersetzt wurde : 20–39 %, 40–
59 %, 60–100 %, völlige Arbeitsunfähigkeit ; Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1918, Beilage Nr. 993,
S. 3.
85 Im Gesetz selbst ist noch uneingeschränkt davon die Rede, dass die Bedürftigkeit nachgewiesen werden
müsse (RGBl 1918/119, § 1), erst in der DVO (RGBl 1918/120) wird festgelegt, das diese Bedürftigkeit
für Kriegsbeschädigte dann als nachgewiesen gilt, wenn ihre Angehörigen Unterhaltsbeiträge gemäß
RGBl 1917/313, § 4 Abs 3 (= Weiterbezug der Unterhaltsbeiträge wegen Invalidität des Heimkehren-
den bzw. wegen dessen Tod, AdA) beziehen.
86 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 67. Sitzung v. 1.3.1918, S. 3403–3406.
87 RGBl 1918/120, § 2 Ziff. 2.
88 RGBl 1918/119, § 1 Abs 2.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918