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82 Die Gesetzgebung der Monarchie
wert sein als der direkt erworbene der Wehrpflichtigen ? Die Antwort liegt letztlich in
den verfassungsrechtlichen Regelungen, die im Zuge des Österreichisch-Ungarischen
Ausgleiches von 1867 getroffen worden waren. Das nach der Niederlage gegen Preu-
ßen im Krieg von 1866 als Doppelmonarchie neu konstituierte Reich bestand fortan
aus zwei im Wesentlichen autonom agierenden Reichshälften, die sich nur das Reichs-
finanz-, das Außen- und das Kriegsministerium teilten. Das Militär blieb also eine
gesamtstaatliche Aufgabe. Und daher war auch das vom Kriegsministerium administ-
rierte Militärversorgungsgesetz eine gemeinsame Angelegenheit.96
Der nahe liegende Grund für das Ausbleiben einer Einigung über ein neues Gesetz
während des Ersten Weltkrieges war die Frage der Finanzierung der Kriegsbeschä-
digtenfürsorge : Der Verteilungsschlüssel für gesamtstaatliche Ausgaben nach dem
geltenden und alle zehn Jahre neu ausgehandelten Finanzausgleich war zu dieser Zeit
zwischen Österreich und Ungarn mit 63,6 zu 36,4 % festgelegt. Laut Kriegsministe-
rium verteilten sich demgegenüber aber die Kriegsbeschädigten auf die beiden Reichs-
hälften im Verhältnis von 56 zu 44 %. Österreich fuhr also besser damit, die Invaliden-
fürsorge im Alleingang zu regeln, als dem gemeinsamen Budget einen im Verhältnis zu
den eigenen Opferzahlen zu hohen Beitrag zuzuschießen.97 Und hier boten sich
– wie
oben gezeigt wurde – die Unterhaltsbeitragsagenden an, die schon seit Beginn (1912)
beim Landesverteidigungsministerium ressortierten. Sie waren in jeder Reichshälfte
unabhängig regelbar, während alle Eingriffe in das Militärversorgungsgesetz unter der
Federführung des Kriegsministeriums mit der österreichischen und der ungarischen
Reichshälfte abgestimmt werden mussten.
Wie schwer eine Einigung der beiden Reichshälften zu erzielen war, zeigt bereits
die Entstehungsgeschichte des Gesetzes von 1875 : Es dauerte damals drei Jahre, bis
zwischen Österreich und Ungarn ein Einvernehmen über die Textierung des Geset-
zes hergestellt war, und vor der Beschlussfassung des Gesetzes im österreichischen
Reichsrat bat der zuständige Minister die Abgeordneten inständig darum, auf Ände-
rungen des vorgelegten Gesetzesentwurfes zu verzichten, da sonst – durch die neu-
erlich notwendig werdenden Verhandlungen mit Ungarn – ein „circulus vitiosus“ in
Gang gesetzt und ein Militärversorgungsgesetz nie beschlossen werde.98 Selbst die
ab 1914 für jedermann evident gewordene dramatische Unzulänglichkeit der Militär-
versorgung und die Erkenntnis, dass das Gesetz von 1875 den Anforderungen an die
96 Das MVG galt zwar im Falle einer Mobilisierung auch für die österreichische Landwehr und die un-
garische Honvéd (siehe RGBl 1875/158, § 128) – die Landesverteidigungsministerien übernahmen die
Regelungen also –, die Zuständigkeit lag aber trotzdem beim Kriegsministerium.
97 AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1356, 1244/1918 ; der Akt fasst die „Genesis unserer Invaliden-Für-
sorge-Aktion überhaupt“ zusammen.
98 Sten. Prot. AH RR, VIII. Session, 65. Sitzung v. 22.10.1874, S. 2417.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918