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84 Die Gesetzgebung der Monarchie
Letztlich
– wenngleich erst einige Monate später
– gelang es der Regierung aber dann
doch, ein neues Militärversorgungsgesetz auszuarbeiten und vorzulegen. Dieses Ge-
setz wurde vom ungarischen Parlament im August 1918 auch beschlossen,101 während
das österreichische Parlament, dem das Gesetz erst am 1. Oktober des Jahres vorgelegt
wurde, die Vorlage nicht mehr beschließen konnte. Das Gesetz stellte ganz offenbar
den Minimalkonsens dar, der zwischen Österreich und Ungarn zu finden war. Dies
macht die Einleitung zur Erläuterung der Regierungsvorlage des sogenannten Zusatz-
rentengesetzes102 deutlich, das dem Parlament zeitgleich mit dem Militärversorgungs-
gesetz vorgelegt wurde. Der mit Ungarn vereinbarte Gesetzesentwurf ignoriere das
Arbeitseinkommen von Kriegsbeschädigten oder Gefallenen vor deren Dienstleistung,
ist dort zu lesen, und stelle nach wie vor lediglich auf Dienstgrad, Dienstzeit sowie den
Grad der Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit ab : „Das entspricht wohl dem bisherigen
Rechtszustande, aber nicht den Anforderungen, die weite Kreise unserer Bevölkerung
an ein neues Militärversorgungsgesetz für das Volksheer stellen.“103
Damit sprach die Regierung erstmals explizit aus, dass Militärversorgung unter
dem Vorzeichen der Wehrpflicht anderen Kriterien als rein militärischen genügen
musste, und machte gar keinen Hehl daraus, dass sie mit dem Gesetz nicht zufrie-
den war. Jene Punkte, über die in den Verhandlungen zwischen Österreich und
Ungarn keine Einigung erzielt werden konnte, versuchten die Regierungen beider
Reichshälften in eigenen sogenannten Zusatzrentengesetzen zu verwirklichen. Das
entsprechende ungarische Gesetz wurde im ungarischen Reichsrat im August 1918
gemeinsam mit dem Militärversorgungsgesetz beschlossen,104 sein österreichisches
Pendent erlitt das gleiche Schicksal wie das neue Militärversorgungsgesetz : Die Vor-
lage wurde von der Regierung Anfang Oktober zwar im Abgeordnetenhaus noch
eingebracht,105 aber der Zerfall der Monarchie verhinderte eine parlamentarische
Behandlung der Materie.
Obwohl diese Gesetze also in der österreichischen Reichshälfte nie in Kraft ge-
treten sind, lohnt ein Blick darauf, wie sie die bis dahin geltenden Grundsätze der
Militärversorgung geändert hätten. Wie bereits erwähnt, sah auch das neue Militär-
101 Pester Lloyd, Abendausgabe v. 8.8.1918, S. 1f ; das ungarische Herrenhaus stimmte der Vorlage am
14.8.1918 zu ; zit. nach K.k. Ministerium für soziale Fürsorge, Mitteilungen über Fürsorge für Kriegs-
beschädigte, Wien 1918, S. 231.
102 Der exakte Titel des Gesetzes lautete „Gesetz betreffend die Gewährung von staatlichen Zuschüssen
(Zusatzrenten) zu den Militärversorgungsgebühren“.
103 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1918, Beilage Nr. 1185, S. 17.
104 Zit. nach K.k. Ministerium für soziale Fürsorge, Mitteilungen, 1918, S. 231.
105 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 84. Sitzung v. 1.10.1918, S. 4293.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918