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88 Die Gesetzgebung der Monarchie
Erneut war es also die staatsrechtliche Konstruktion der Monarchie, festgeschrieben
im Ausgleich von 1867, die Sand ins Getriebe der Kriegsbeschädigtenfürsorge streute.
Wenigstens ansatzweise berücksichtigt wurde das Problem des fehlenden Einspruchs-
rechts im Gesetzesentwurf dadurch, dass den neu geschaffenen Zusatzrentenkommis-
sionen, die unter anderem mit „Vertretern der verschiedenen Berufe“ beschickt werden
sollten, das Recht eingeräumt wurde, eine neuerliche Superarbitrierung zu verlangen,
sollten sich „erhebliche Bedenken“ gegen den von der Militärbehörde festgestellten
Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben.118
War bis dahin ein rechtsstaatlicher Instanzenzug, der eine Überprüfung der Behör-
denentscheidung ermöglicht und eine zentrale Voraussetzung für die Durchsetzung
von Ansprüchen dargestellt hätte, nur in Ansätzen vorhanden, so hätte das Zusatzren-
tengesetz immerhin ein Schiedsgericht vorgesehen gehabt. Dieses am Sitz der politi-
schen Landesbehörde angesiedelte Schiedsgericht wäre unter Mitwirkung von „selb-
ständig und unselbständig Erwerbstätigen der in dem Verwaltungsgebiete vorwiegend
vorkommenden Berufszweige“ tätig geworden.119 Die Vermutung liegt nahe, dass die-
ses Mitbestimmungselement in Anlehnung an das neue Unterhaltsbeitragsgesetz von
1917 geschaffen worden wäre, wo dieses Element erstmals normiert worden war.
2.5 Resümee
Eine Gesamtbilanz der Kriegsbeschädigtenfürsorge am Ende des Ersten Weltkrieges
ergibt unter dem Strich ein durchsetztes Bild. Den Ausgangspunkt für alles, was im
Laufe des Krieges in diesem Bereich geschehen war, bildete die Einführung der Wehr-
pflicht im Jahr 1868. Durch diesen Schritt war ein System von wechselseitigen Ver-
pflichtungen in Gang gesetzt worden, dessen tatsächliche Konsequenzen mit all ihren
Facetten erst im Ersten Weltkrieg erkennbar geworden waren. Extrem verkürzt sah
dieses Verpflichtungssystem etwa so aus : Der Staat nahm den männlichen Staatsbür-
ger für die Verteidigung des staatlichen Gemeinwesens in die Pflicht und verpflichtete
sich dafür im Gegenzug, die dabei gegebenenfalls erlittenen und die bürgerliche Exis-
tenz beeinträchtigenden Schäden des Bürgers zu kompensieren. Wehrpflicht gegen
Fürsorgepflicht – so lässt sich dieses Modell idealtypisch beschreiben. Nur der erste
dieser beiden Schritte wurde bis zum Ende des Krieges tatsächlich in die Praxis um-
gesetzt, indem der größte Teil der männlichen Staatsbürger kriegsdienstverpflichtet
wurde. Die Umsetzung des zweiten Schrittes dagegen blieb Stückwerk.
118 Alle Zitate : Ebd.
119 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1918, Beilage Nr. 1185, § 26.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918