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91Resümee
politischer Hinsicht ein Bild von Familie, das sich dadurch auszeichnete, dass der im
Mittelpunkt der Familie stehende männliche Ernährer als Hauptadressat der Unter-
stützung wahrgenommen wurde, während allfällige Ansprüche von Angehörigen sich
von jenen des Familienerhalters bloß ableiteten.
Was die erste Feststellung betrifft, so ist hier ein Paradigmenwechsel angesprochen.
Die Festlegung, Kriegsbeschädigte nicht für einen wie immer objektivierten Schaden
an sich – oder, allgemeiner gesagt, für ein dem Staat gebrachtes Opfer – zu entschä-
digen, sondern im Hinblick auf eine individuelle und an dem vor der militärischen
Verwendung ausgeübten Beruf gemessene Beeinträchtigung, diese Festlegung verweist
auf einen solchen neuen Blick auf den Soldaten. Es wird deutlich, dass es sich bei den
Leistungen aus dem Titel der Kriegsbeschädigtenfürsorge tatsächlich um eine Form
von Schadenersatz für den männlichen Staatsbürger und nicht um eine Gratifikation für
den wehrpflichtigen Soldaten handelte. Die Frage, warum der Staat das Belohnungs-
modell nie in Betracht zog, ist schwer zu beantworten. Es liegt nahe, die staatliche
„Entscheidung“ – im Sinne einer Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten wurde
sie in Österreich ohnehin nie getroffen
–, die Kriegsbeschädigtenfürsorge auf der Basis
eines Schadenersatzmodells aufzubauen, durch finanzielle bzw. volkswirtschaftliche
Notwendigkeiten zu erklären. Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, wurde sehr
bald damit argumentiert, dass die Volkswirtschaft auf die Arbeitskraft der Kriegs-
beschädigten keinesfalls verzichten könne. Wenngleich hinter dieser Argumentation
zweifellos auch wieder zu einem guten Teil das Wissen um die – angesichts der oh-
nehin äußerst angespannten Staatsfinanzen evidente – Unmöglichkeit einer „Vollver-
sorgung“ aller Kriegsbeschädigten steckte, mag die Etablierung des Schadenersatzmo-
dells auch damit zusammenhängen. Angesichts dessen, was Michael Geyer über den
Weg schreibt, den der französische Staat bei der Versorgung der Kriegsbeschädigten
wählte, ist aber anzunehmen, dass es auch tiefer liegende Erklärungen geben muss. Die
französischen Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges wurden nämlich nicht im
Hinblick auf die Minderung ihrer Erwerbs- oder Arbeitsfähigkeit, sondern für ihren
Dienst an der Nation entschädigt.121 Grund dafür ist das, verglichen mit Österreich,
grundsätzlich andersartige Konzept von Nation in Frankreich.122
Der zweite oben angesprochene Aspekt ist mindestens ebenso grundsätzlicher Natur.
Den deutlichsten Ausdruck findet das Konzept der Familie als einer aus einem männ-
lichen Ernährer und von diesem abhängigen Angehörigen bestehenden Gemeinschaft
121 Geyer, Vorbote, S. 241.
122 Ausführliche Studien zu den Versorgungssystemen in den verschiedenen europäischen Staaten liegen
derzeit leider nicht vor, daher ist es kaum möglich, weitergehende Vergleiche anzustellen.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Wundes des Staates
- Subtitle
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Authors
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 586
- Categories
- Geschichte Nach 1918