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Manchmal überraschte sie sich dabei, daß sie gar nicht das Bedürfnis hatte
zu sprechen, wenn sie bei ihm war. Er spielte oder schwieg, und sie saß und
träumte und fühlte nur, wie ihre Träume immer heller und lichter wurden,
wenn er sprach oder sie anblickte. Das war alles verklungen, kein irrer Lärm
drang mehr vom Tage herüber, nur Stille, Schweigen und silberne
Feiertagsglocken tief im Herzen. Und ein sehnsüchtiges
Zärtlichkeitsbedürfnis, ein Erwarten von lieben und leisen Worten, die sie
doch eigentlich fürchtete, bebte dann in ihr. Sie ahnte, wie sie ganz in seinem
Banne stand, wie er sie mit seiner Kunst beherrschen konnte, Schmerzen und
Jubel geben mit seinen lockenden Tönen; sie fühlte sich wehrlos seinem Spiel
gegenüber, und so unsäglich arm, weil sie nichts geben konnte und nur
empfing, mit offenen zitternden Händen bei ihm bettelte.
Es war eine unabänderliche Gewohnheit geworden, daß sie mehrmals in
der Woche zu ihm kam. Zuerst waren es Proben zu einem gemeinsamen
Konzert, aber bald konnten sie die wenigen Stunden gar nicht mehr
entbehren. Sie ahnte gar nicht die Gefahr, die in der wachsenden Intimität
ihrer Freundschaft lag, sondern ließ die letzte Zurückhaltung ihrer Seele vor
ihm fallen und offenbarte ihm ihre verborgensten Geheimnisse als ihrem
einzigen Freunde. Sie merkte es oft gar nicht in ihrem heißen, fast visionären
Erzählen, wie er ihre Hände in wachsender Erregung umspannte und
manchmal die Lippen brennend zu ihren Fingern herabsenkte, während er ihr
zu Füßen lag und zuhörte. Und sie erkannte auch nicht, wie er manchmal in
den drängendsten und verlangendsten Tönen seiner Geige nur zu ihr
sprach, weil sie in der Musik immer sich selbst suchte und ihre Träume. Ein
Verstehen und eine Erlösung war ihr diese Zeit für das viele, das sie bisher
nicht laut zu sagen wagte, und noch nicht mehr. Sie wußte nur, daß eine
solche stille Stunde viel Glanz hineinbrachte in ihren öden, arbeitsvollen Tag
und einen lichten Schein in ihre Nächte. Und mehr wollte sie nicht als still
sein und selig sein; sie verlangte nur einen reichen Frieden in den sie flüchten
konnte, wie zu einem Altar.
Aber sie hütete sich wohl, ihr Glück offen zu zeigen; ihre Lippen bargen oft
ein Lächeln reinster Seligkeit mit so herbverschlossener Gewalt vor den
Leuten und vor ihrer Familie, als sei es ein aufquellendes Weinen. Denn sie
wollte ihre Erlebnisse bewahren vor fremden Blicken wie ein Kunstwerk mit
hunderterlei flüchtigen Zusammenhängen, das in plumpen Fingern mit einem
bangen Aufschrei zerbricht. Und sie baute kühle und abgenutzte Alltagsworte
um ihr Glück und um ihr Leben, so daß es durch viele Hände gehen konnte,
ohne verkannt zu werden und in wertlose Scherben zu zerbrechen.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik