Seite - 30 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 30 -
Text der Seite - 30 -
Versunkenheit vorübergingen, dann wieder hastende Burschen,
vorbeischießende Radfahrer, rasch dahinrollende Wagen mit schwirrenden
Rädern, Bilder des Tages und der Gewöhnlichkeit. Aber ihr war alles das so
fremd. Wie von ferne, aus einer anderen Welt schaute sie zu, als könnte sie
nicht verstehen, warum diese Wesen so eilten und drängten und
vorbeistürmten, wenn alle Ziele so klein und verächtlich waren. Als ob es
etwas Reicheres und Seligeres geben könne als den großen Frieden, in dessen
Bann alle Leidenschaften schlafen und alle Sehnsüchte; der doch wie eine
wunderwirkende Quelle war, in deren milder und geheimkräftiger Flut sich
alles Kranke und Häßliche ablöste, wie eine lästige Schicht. Und wozu dann
alle die Kämpfe und Überwindungen? Und wozu die heiße nimmermüde
Sehnsucht, die niemanden zurückweichen läßt?
So dachte die Erika Ewald manchmal und lächelte über das Leben. Denn
sie wußte nicht, daß auch der Glaube an diesen großen Frieden nur eine
Sehnsucht ist, das innigste und unvergänglichste Begehren, das uns nicht zu
uns selbst gelangen läßt. Sie glaubte ihre Liebe überwunden zu haben und
dachte ihrer, wie man eines Toten gedenkt. Die Erinnerungen bekamen milde,
versöhnliche Farben, vergessene Episoden tauchten wieder auf, und zwischen
Wirklichkeit und sanfter Träumerei liefen geheime, verbindende Fäden hin
und her, bis sie sich unlöslich verwirrt hatten. Denn sie träumte von ihrem
Erlebnis wie von einem eigenartigen und schönen Roman, den man vor
langem gelesen; seine Gestalten treten langsam wieder heran und sprechen
die Worte, die bekannt sind und doch so ferne, alle Räume werden wieder
sichtbar, wie erleuchtet von einem plötzlichen aufblitzenden Licht, alles ist
wieder wie einst. Und Erika dichtete sich in ihren Gedanken, die sich im
Abend berauschten, immer wieder neue Abschlüsse dazu, aber sie fand
keinen rechten, denn sie wollte ein mildes und versöhnliches Ende voll
Hoheit und reifer Entsagung, mit kühlem freundschaftlichem Händereichen
und tiefem Verstehen. Langsam gaben ihr diese romantischen Träume den
innigen Glauben, daß auch er jetzt ihrer harre und in tausend seligen
Schmerzen gedenke, und diese Idee, die sich in ihr allmählich zu einer
unbeugsamen Tatsache verdichtete, ließ das Vertrauen immer sicherer sich
entfalten, daß alles noch gut werden müsse und daß eine versöhnende,
abschließende Konsonanz die seltsam bewegte Melodie ihrer Liebe erlösen
müsse.
Nach langen, langen Tagen wagte sich jetzt manchmal ein Lächeln über
ihre Lippen, wenn sie ihrer Liebe gedachte mit all ihren bitteren Wunden, die
nun vernarben wollten. Denn sie wußte noch nicht, daß ein tiefer Schmerz
wie ein finsterer Gebirgsbach ist, der sich unterirdisch, mit unruhvollem
Schweigen durch das Gestein wühlt und in ohnmächtigem Zorne lange an
ungebahnten Pforten pocht und pocht. Aber einmal zersprengt er die Wand
30
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik