Seite - 54 - in Die Liebe der Erika Ewald
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Die schöne Gräfin Ostrowska hatte im Zuge ein eigenes reserviertes Coupé.
Seit der Abfahrt las sie einen französischen Roman, sanft gewiegt von der
schaukelnden Bewegung des Wagens. Die Luft des engen Raumes war
schwül und getränkt von dem drückenden Dufte vieler welkender Blumen.
Schon nickten von den prächtigen Abschiedskörben die weißen
Fliedertrauben müde herab wie überreife Früchte, erschlafft hingen die Blüten
an den Stengeln, und die schweren und breiten Kelche der Rosen schienen zu
welken in der heißen Wolke der berauschenden Düfte. Erstickende Schwüle
wärmte diese schweren Duftwellen, die träge niederdrückten, selbst in der
sausenden Eile des Zuges.
Plötzlich ließ sie mit matten Fingern das Buch sinken. Sie wußte selbst
nicht, warum. Ein geheimes Gefühl war es, das sie aufriß. Sie fühlte einen
dumpfen schmerzlichen Druck. Ein jäher, unverständlicher beklemmender
Schmerz umpreßte ihr Herz. Sie glaubte ersticken zu müssen in dem
schwülen betäubenden Dunst der Blumen. Und dieser ängstigende Schmerz
wich nicht, sie fühlte jede Schwingung der sausenden Räder, das blinde
Vorwärtsstampfen marterte sie unsäglich. Eine plötzliche Sehnsucht packte
sie, den eilenden Schwung des Zuges hemmen zu können, ihn zurückzureißen
von dem dunklen Schmerz, dem er entgegenstürmte. Nie hatte sie in ihrem
Leben eine ähnliche Angst vor etwas Furchtbarem, Unsichtbarem,
Grausamem ihr Herz umklemmen gefühlt, als in diesen Sekunden
unverständlichen Schmerzes und unbegreiflicher Angst. Und immer wilder
wurde dieses unsagbare Gefühl, immer enger der Druck um die Kehle. Wie
ein Gebet stöhnte in ihr der Gedanke, daß der Zug anhalten möge.
Da plötzlich ein schriller Signalpfiff, der wilde warnende Schrei der
Lokomotive und das klägliche knirschende Stöhnen der Bremse. Und
verlangsamt der Rhythmus der fliegenden Räder, langsamer und langsamer,
dann ein ratterndes Stammeln und ein stockender Stoß… .
Mühsam tappt sie zum Fenster, um die kühle Luft zu trinken. Die Scheibe
rasselt nieder. Draußen schwarze, stürmende Gestalten … . fliegende Worte
von wechselnden Stimmen: ein Selbstmörder… . Unter den Rädern… . Tot…
. Auf freiem Feld… .
Sie zuckt zusammen. Instinktiv trifft ihr Blick den hohen schweigenden
Himmel und drüben die schwarzen rauschenden Bäume. Und über ihnen ein
einsamer Stern über dem Walde. Sie fühlt seinen Blick wie eine funkelnde
Träne. Sie sieht ihn an und spürt jählings eine Traurigkeit, wie sie sie nie
gekannt. Eine Traurigkeit voll Glut und Sehnsucht, wie sie in ihrem eigenen
Leben nie war…
Langsam rattert der Zug wieder weiter. Sie lehnt in der Ecke und spürt leise
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik