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Mädchen nur in den Weg gewiesen worden sei, um zum wahren Glauben
bekehrt zu werden. Nicht an ihm sollte das Wunder gewirkt werden, sondern
er sollte es wirken. Er wollte in ihrem Blicke die tiefe Heilandssehnsucht
sehen, die die Gottesmutter selbst getragen haben mußte, als sie mit seligem
Erwarten seiner Erscheinung entgegenbangte. Er wünschte ihr Wesen erst mit
Gläubigkeit zu erfüllen, um eine Madonna schaffen zu können, in der noch
die Schauer der Verkündigung beben, aber schon vereint mit dem süßen
Vertrauen der Erfüllung. Und rings dachte er sich eine milde Landschaft in
Vorfrühlingsstimmung, weiße Wolken, die wie Schwäne durch die Luft
wanderten, als zögen sie an unsichtbaren Fäden den warmen Frühling hinter
sich, ein erstes zartes Grün, das der Auferstehung entgegendrängte und
schüchterne Blumen, die wie mit dünnen Kinderstimmen die große Seligkeit
verkündeten. Aber des Kindes Augen waren ihm noch zu verschüchtert und
zu demutsvoll; die mystische Flamme der Verkündigung und der Hingebung
an eine dunkle Verheißung wollte sich noch nicht in diesen unruhigen Blicken
entzünden, in denen noch der tiefe verschleierte Schmerz des Volkes lastete
und manchmal der flackernde Trotz der Auserwählten, die mit ihrem Gotte
gehadert. Noch kannten sie die Demut nicht und nicht die sanfte unirdische
Liebe.
Er suchte sorgfältige und vorsichtige Wege, um den Glauben ihrem Herzen
näher zu tragen; denn er wußte, wenn er ihn ihr hell und in seiner ganzen
Fülle erglühend entgegentrüge wie eine Monstranz, in der die Sonne
tausendfarbig funkelt, daß sie nicht erschauernd niedersinken würde, sondern
sich schroff und hart abwenden, um das feindliche Zeichen nicht zu sehen. In
seinen Mappen ruhten viele Bilder aus der heiligen Geschichte; eigene und
viele großer Meister, die er in seiner Lehrzeit und auch später noch
manchesmal, von lebhafter Bewunderung überwältigt, nachgezeichnet hatte.
Die suchte er nun heraus, und sie betrachteten gemeinsam, Schulter an
Schulter die Bilder; bald fühlte er den tiefen Eindruck, den manches der
Blätter in ihrer Seele erzeugte, an der Unruhe ihrer blätternden Hände und den
raschen Atemzügen, die warm an seine Wangen wellten. Eine farbige Welt
von Schönheit tauchte plötzlich vor diesem einsamen Mädchen auf, das seit
Jahren nur mehr die verquollenen Gestalten der Schenke, die verrunzelten
Gesichter alter schwarzgekleideter Frauen und die schmutzige Plumpheit der
schreienden und sich balgenden Straßenkinder gesehn hatte. Und hier waren
sanfte, in wunderbare Gewande gehüllte Frauen von bezaubernder Schönheit,
traurige und stolze, begehrliche und verträumte, Ritter in Rüstungen und
langen Prunkgewanden, die mit diesen Frauen scherzten oder sprachen,
Könige mit langwallenden weißen Locken, auf denen goldene Kronen
schimmerten, schöne Jünglinge, deren Leib von Pfeilen durchbohrt sich am
Marterstamm niedersenkte oder unter Qualen verblutete. Und ein fremdes
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik