Seite - 84 - in Die Liebe der Erika Ewald
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hinübergehn mit mir in die helle Stadt, da wurde er ernst und sagte: “Nein,
Esther, die Christen würden uns töten”… . Ich erschrak bei dem Wort… ..
Und seitdem haßte ich die Christen… .«
Sie hielt inne in ihren Träumen, denn es ward wieder alles licht in ihr. Was
sie längst vergessen hatte, was verstaubt und verschleiert in ihrer Seele
gelegen, funkelte wieder auf. Sie ging wieder die dunklen Ghettogassen
entlang bis zu dem Hause. Und mit einem Male waren Zusammenhänge da,
alles wurde so klar, und sie erfaĂźte, daĂź was sie manchmal fĂĽr einen Traum
hielt, Wirklichkeit und vergangenes Leben war. MĂĽhsam hasteten die Worte
den klaren vorĂĽbereilenden Bildern nach.
»Und damals dieser Abend… . Plötzlich riß man mich aus dem Bett … .
ich erkannte meinen GroĂźvater, der mich in den Armen hielt, mit bleichem
zitternden Gesicht … . das ganze Haus brauste und zitterte, die Luft war voll
Schreien und Lärmen… . Aber jetzt dämmert es mir auf, ich höre wieder, was
sie schrieen: die Fremden, die Christen… . Mein Vater schrie es oder meine
Mutter… . Ich weiß nicht mehr… . Mein Großvater trug mich hinab in die
Dunkelheit durch schwarze Gassen und Straßen… . Und immer das Lärmen
und derselbe Schrei: die Fremden, die Christen… . Wie hab’ ich das
vergessen können!?… Und dann ein Mann, mit dem wir gehen… . Ich weiß
nicht mehr, ich glaube, ich schlief… . Als ich erwachte, waren wir tief im
Land, mein Großvater und der Mann, bei dem ich lebe… . Die Stadt sah ich
nicht mehr, aber der Himmel war sehr rot, dort, von wo wir gekommen… .
Und wir reisten weiter… «
Wieder hielt sie inne. Die Bilder schienen sich zu verlieren, langsamer
dunkler zu werden.
»Ich hatte drei Schwestern… . Sie waren sehr schön, und jeden Abend
kamen sie an mein Bett und küßten mich… . Und mein Vater war groß, ich
reichte nicht hinauf zu ihm, und so trug er mich oft in seinen Armen… . Und
meine Mutter… . Ich habe sie nie mehr gesehen… . Ich weiß nicht, was mit
ihnen ist, denn mein Großvater sah weg, wenn ich ihn fragte und schwieg… .
Und als er starb, wagte ich niemanden zu fragen… «
Und wieder hielt sie inne. Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle mit weher
Gewalt. Ganz leise fĂĽgte sie bei:
»Jetzt weiß ich alles… . Wie konnte das alles so dunkel sein für mich? Mir
ist, als stände mein Vater neben mir und spräche das Wort, das er damals mir
zur Antwort gesagt – so deutlich klingt es in meinen Ohren… . Nun frage ich
niemanden mehr… «
Ihre Worte wurden Schluchzen, stummes trostloses Weinen, das in ein
tiefes trauriges Schweigen verklang. Das Leben, dessen helles Bild sie noch
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik