Seite - 90 - in Die Liebe der Erika Ewald
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war hell und warm, das Fenster umschnitt mit seinen Kanten eine lichte und
durchsichtige Landschaft: Türme, die ferne waren und doch ihren
goldglänzenden Schein wie von nahe schimmern ließen, Dächer, von denen
der Rauch leise und sanftgekräuselt sich in das tiefe und wie damastene
Himmelsblau verlor, weiße Wolken, die ganz nahe standen, als wollten sie
sich niedersenken wie ein flaumiger flatternder Vogel in dieses
dunkelflutende Meer der Dächer. Und mit vollen Händen warf die Sonne ihr
Gold herein, Strahlen und tanzende Funken, rollende Kreise wie kleine
klirrende Münzen, schmale schneidende Streifen wie glänzende Dolche,
flatternde Formen ohne Deutung und Sinn, die mit springender Behendigung
wie kleine schimmernde Tiere über die Bohlen sprangen. Und dieses flirrende
und prickelnde Spiel hatte das Kind aus dem Schlafe geweckt, indem es wie
mit seinen spitzigen Fingern an die geschlossenen Augenlider pochte, bis sie
sich auftaten und blinzelten und starrten. Unruhig begann es sich auf
dem Schoße des Mädchens zu bewegen, das es mit unwilliger Gebärde
behütete. Aber es strebte nicht von ihr weg, sondern haschte nur ungeschickt
mit seinen kleinen täppischen Händen nach diesen Funken, die es umtanzten
und umspielten, ohne daß es sie fassen konnte und dieser Mißerfolg steigerte
nur seine Aufmerksamkeit. Immer eiliger suchte es die kleinen dicken Finger
zu bewegen, die vom sonnigen Lichte rötlich durchleuchtet die warme Flut
des Blutes durchdämmern ließen, und dieses naive Spiel erfüllte die ganze
kleine unfertige Gestalt mit wundersamem Liebreiz, der auch Esther
unbewußt bezwang. Lächelnd und innerlich das vergebliche Bemühen
überlegen bemitleidend, sah sie diesem endlosen Spiele zu, ohne zu ermüden
oder sich ihres Widerwillens gegen dieses unschuldige hilflose Wesen zu
erinnern. Zum ersten Mal webte ein menschliches und innig menschliches
Leben für sie in diesem kleinen glatten Körper, dessen fleischige Nacktheit
und stumpfe Sättigung sie bisher nur empfunden; und mit kindlicher Neugier
folgte sie jeder Regung. Der alte Mann sah zu und schwieg. Mit Worten
fürchtete er den Trotz und die vergessene Scham in ihr wieder wachzurufen,
aber ein befriedigtes Lächeln eines, der die Welt und ihre Wesen kennt, wollte
nicht weg von seinen milden Lippen. Nichts Sonderbares sah er in diesem
Wechsel, sondern nur ein Berechnetes und Erwartetes, ein Vertrauen auf jene
tiefrauschenden Gesetze der Natur, die nie versagen und vergessen, Wahrheit
zu werden. Er fühlte sich wieder so ganz nahe einem jener ewigen, sich
immer wieder erneuernden Wunder des Lebens, das aus den Kindern die
hingebende Güte der Frauen mit einem Male erstehen läßt, die wieder hin zu
den Kindern geht, von Werden zu Werden, und so eigene Kindheit nie
verliert, sondern zweimal lebt, in sich und in denen, der sie begegnen. Und
war dies nicht das Gotteswunder Marias, die Kind war, um nie Frau zu
werden, sondern weiterzuleben in ihrem Kinde? Hatte nicht jedes Wunder
seinen Spiegel in der Wirklichkeit und jeder erschaute Augenblick eines
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik