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In diesen Tagen aber geschah noch ein anderes im Leben Esthers, das nichts
Seltsames und Unwahrscheinliches war, aber doch wie ein aufwirbelnder
Sturm bis in die Tiefen ihres Lebens hinabgriff, daß sie erschauerten in
wildem und unverständlichemSchmerz. Sie fühlte die ersten Mysterien der
Reife und ward Weib aus einem Kinde. Viel ratlose Verwirrung erfüllte ihre
Seele, die niemand führte und unterwies, die einsam einen wundersamen Weg
zwischen tiefen Dunkelheiten und mystischem Leuchten ging. Und viel
Sehnsucht ward wach, die keinen Weg wußte. Ihr unbändiger Trotz, der
früher allen Gespielen abweisend ausgewichen war und jedes unnötige Wort
mit ihrer Umgebung vermieden hatte, brannte wie ein Fluch in diesen Tagen
dunkler Verlorenheit. Denn so fühlte sie nicht die heimliche Süße, die in
diesem Werden sich birgt, wie eine Saat, deren Fülle noch ferne ist, und nur
der dumpfe, irre und so einsame Schmerz blieb zurück. Und in diese
Unwissenheit glänzten die Legenden und Wunder, von denen der alte Mann
ihr erzählt, wie verführerische Lichter, denen ihre Träume in die unsinnigsten
Möglichkeiten gierig folgten. Die Erzählung von der milden Frau, deren Bild
sie gesehen, die Mutter ward nach wundersamer Verkündigung, durchbebte
sie mit einer jähen und fast freudigen Angst. Und doch wagte sie nicht zu
glauben, denn noch von anderem war da gesprochen worden, das sie nicht
verstand. Aber sie meinte, daß in ihr selbst irgend ein Wunder wirke, weil sie
sich so verändert fühlte in ihrem ganzen Empfinden, weil die Welt und alle
Menschen um sie mit einem Male anders zu sein schienen, tiefer, seltsamer
und voll geheimer Triebe. Alle Dinge schienen zusammen zu gehören und ein
inneres Leben zu haben, das sich entgegendrängte und wieder zurückstieß,
eine Gemeinsamkeit, von der sie nicht wußte, wo sie sich berge; ihr schien
alles zusammenzuhalten, was so vereinzelt stand. Und sie selbst fühlte diese
innere Kraft, die sie hineinzog in das Leben und zu den Menschen, aber sie
war unsinnig und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte und hinterließ nur
diesen gleichen drängenden, pressenden und quälenden Schmerz
unverbrauchter Sehnsucht und unterbundener Kraft.
Was Esther bisher unmöglich erschienen, versuchte sie jetzt in
verzweifelten Stunden, wenn ihre Verlorenheit sich erkannte und die
Sehnsucht nach einem Dinge, an das sie sich anklammern könnte, ihr Herz
überwältigte. Sie sprach mit ihrem Ziehvater. Bisher war sie ihm
ausgewichen, instinktiv, weil sie die Ferne fühlte, die zwischen ihnen war.
Aber nun stieß sie dieser blinde Drang über die Schwelle. Sie sprach mit ihm
von allen Dingen, erzählte ihm von dem Bilde, griff tief in sich hinein, um aus
diesen Stunden etwas emporraffen zu können, was ihm von Wert sein könnte.
Und der Wirt, sichtlich erfreut über diese Wandlung klopfte ihr derb
begütigend auf die Wangen und hörte zu. Manchmal warf er ein Wort drein,
aber es war so lässig undunpersönlich wie die Gebärde, mit der er den
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik