Seite - 96 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 96 -
Text der Seite - 96 -
zerkauten Tabak zur Erde spuckte. Schließlich erzählte er selbst in seiner
ungeschickten Weise, was gerade vorgegangen war, aber Esther horchte
vergebens. Er wußte ihr nichts zu sagen, er versuchte es gar nicht. Alle Dinge
schienen nur bis an seinen Körper heranzukommen und nichts nach innen zu
fließen, eine Gleichgültigkeit gegen alles schlug ihr aus seinen Worten
entgegen, die sie mit Ekel erfüllte. Was sie früher nur dumpf geahnt, wußte
sie jetzt: es gab keinen Weg von solchen Menschen zu ihr und ihrer Seele. Es
gab ein Nebeneinandersein, aber kein Erkennen, eine Öde und kein
Verständnis. Und er schien ihr noch der beste von all den Menschen, die in
dieser traurigen Kneipe aus und ein gingen, weil eine gewisse biedere
Derbheit in ihm war, die in manchen Augenblicken sogar Herzlichkeit werden
konnte.
Diese Enttäuschung aber konnte die drängende Kraft dieser unbändigen
Sehnsucht nicht zerbrechen und die ganze Wucht strömte wieder zu den
beiden Wesen zurück, die Aufgang und Niedergang ihres Tages umspannten.
Sie zählte die einsamen Stunden der Nacht, die sie noch vom Morgen
entfernten, mit Inbrunst und die Stunden des Tages, die vor ihrem Besuche
bei dem Maler lagen, mit fiebernder Glut, die sich auf ihrem Antlitz verriet.
Und einmal auf der Gasse warf sie sich ganz in den Arm ihrer Leidenschaft,
wie ein Schwimmer in eine aufschäumende Flut, und stürmte wie verzweifelt
durch die ruhig vorwärtsstrebenden Menschen, um erst Halt zu machen, wenn
sie mit gerötetem Gesicht und verwirrten Haaren vor dem Tore des ersehnten
Hauses stand. Eine Unbändigkeit und Lust an freier leidenschaftlicher
Gebärde hatte in dieser Zeit der Umformung Gewalt über sie gewonnen und
gab ihr eine wilde begehrliche Schönheit.
Und diese gierige, fast verzweiflungsvolle Art ihrer Zärtlichkeit ließ sie das
Kind vor dem alten Manne bevorzugen, in dessen freundlicher inniger Milde
etwas Ablehnendes, Abgeklärtes gegenüber aller stürmischen Leidenschaft
lag. Er wußte nichts von der fraulichen Wandlung Esthers, aber er ahnte sie
aus ihrem ganzen Wesen, dessen so jäh erwachte Ekstatik ihn befremdete. Ihr
Schranken zu setzen, versuchte er nicht, weil er die elementare Kraft spürte,
die sie vorwärts trieb in diese zähe Leidenschaft. Und er verlor darum nicht
die väterliche Liebe zu diesem einsamen Kinde, wenngleich auch sein Sinn
sich ganz wieder dem fernen Spiel der geheimen Lebenskräfte zugewandt
hatte. Er freute sich ihrer Gegenwart und suchte sie sich zu bewahren. Das
Bild war schon vollendet, er sagte es aber Esther nicht, weil er sie nicht
trennen wollte von dem Kinde, das sie mit Zärtlichkeit gleichsam überflutete.
Ab und zu tat er noch einen Pinselstrich, aber es waren immer nur unwichtige
Äußerlichkeiten, ein Faltenwurf, eine leichte Schattierung des Hintergrundes
oder eine flüchtige Nuance im Spiel des Lichtes. Dem eigentlichen Gedanken
des Bildes und seiner innerlichen Empfindung wagte er nicht mehr zu nahen,
96
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik