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In den oberen Klassen der Volksschule musste dann jeder Schüler ein Heft
über die persönlichen und familiären Verhältnisse, das auch ständig kontrol-
liert wurde, führen. In diesem waren neben Angaben über Namen und Her-
kunft der Eltern und Großeltern deren Beruf wie auch Krankheiten („Gebre-
chen“) enthalten. Auch die Angabe, mit welchem Spitznamen mein Vater mei-
ne Mutter nannte, durfte nicht fehlen. Dies alles stand natürlich nicht unter
Datenschutz und der Klassenvorstand wie der Direktor konnten alles lesen.
Vor der Hochzeit meiner Tante, der Schwester meines Vaters, mussten diese
und der zukünftige Gatte einen Ariernachweis erbringen, auf dem der Grad der
Abstammung, wie „rein arischer Abstammung“ gegenüber „Voll-, Halb- oder
Vierteljude“, festgehalten war. Ohne dieses Dokument wäre sonst eine stan-
desamtliche Trauung nicht genehmigt worden.
Der politische Blick in das Privatleben ging noch weiter. Man wollte über Auf-
sätze das Freizeitverhalten der Familie erfahren, wen man besuchte oder wo-
hin und in wessen Begleitung der Sonntagsausflug führte und was am Wo-
chenende in den eigenen vier Wänden gemacht wurde. So erzählte mir war-
nend meine Mutter von einem Aufsatz eines Mitschülers über das Thema „Als
Fliegeralarm war“. Er beschrieb, dass er leicht erkrankt war und deshalb mit
seinem Vater in der elterlichen Wohnung zurückblieb, während seine Mutter
mit seiner Schwester den Luftschutzkeller aufsuchte. Während des Alarms,
so schrieb er weiter, kroch sein Vater für einige Zeit unter das Bett und verhielt
sich dort ruhig. Einige Tage später durchsuchte die Polizei diese Wohnung,
fand einen Geheimsender und verhaftete den Vater. Über das weitere Schick-
sal dieses Mannes erfuhr ich nichts.
Wir besaßen nur einen Zwei-Röhren-Apparat, ich glaube einen „Horniphon“, mit
dem wir, so wurde mir versichert, keinen ausländischen Geheimsender emp-
fangen konnten. Ein Vorteil, denn auf diesem Delikt stand die Todesstrafe.
Noch heute werde ich öfters auf unser Wissen über Konzentrationslager zu
dieser Zeit angesprochen. Ich erinnere mich noch, als ich nach einer Radiomel-
dung meine Mutter fragte, was ein Zuchthaus sei, in das jemand kam, wenn er
verurteilt wurde. „Zuchthaus ist ein Gefängnis“, war die Antwort meine Mutter.
So bin ich persönlich überzeugt, dass die große Masse der Bevölkerung wie
meine Familie nichts von den KZ und den Vorgängen in diesen wusste oder
nur eine vage Vorstellung hatte, eben nur über das, was von Nachbarn erzählt
wurde oder gerüchteweise durchsickerte. Man darf die gewaltige offizielle
Propaganda nicht vergessen, die einfach alles niederwalzte, was sich abseits
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115