Seite - 42 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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42 Im Juni 1944 machte ich die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule. Ich war
natürlich sehr aufgeregt und kann mich noch genau daran erinnern, wie wir in
den Sitzreihen des Chemiesaals im Akademischen Gymnasium am Beethoven-
platz in einem Halbrund, einem Amphitheater ähnlich, saßen. Als die Fragen
aus Mathematik diktiert wurden, heulten die Sirenen und wir mussten schnell
in den Keller gehen. Es war dies kein schwerer Angriff auf die Innenstadt, doch
verharrten wir rund zwei Stunden im Luftschutzkeller. Dann ging die Aufnah-
meprüfung in Mathematik und den anderen Fächern normal weiter.
Es war ein strahlend sonniger Herbsttag im Jahre 1944 – leider ein gutes Flug-
wetter. Ich war mit meinem Vater bei einem Hochamt in der Mechitaristenkir-
che am Beginn der Neustiftgasse, als während des Hochamts eine gewisse
Unruhe in der Kirche spürbar wurde. Mein Vater nahm mich an die Hand und wir
verließen rasch die Kirche. Auf der Straße hörten wir schon den Flugzeuglärm
wie auch die Schüsse der Flak und das Krachen der ersten Bomben. So schnell
wir konnten, rannten wir in den Luftschutzkeller des nahe gelegenen Justiz-
palastes und, kaum hatten wir diesen erreicht, hörten ein ohrenbetäubendes
Krachen: Eine Bombe hatte in unmittelbarer Nähe eingeschlagen. An diesem
Tag begannen auch die Bombenangriffe auf die Wiener Innenstadt und wir
wurden sehr unsanft aus dem Traum gerissen, dass das Zentrum Wiens von
den Bomben der Amerikaner verschont bleiben würde.
Hinterließen die ersten Angriffe „nur“ aufgeschlitzte Gebäude, wo man dann
herabhängende Dippelbäume und schwankende Einrichtungsgegenstände in
den durch Sprengbomben halb zerstörten Häusern sehen konnte, so wurden
diese Ausnahmen, die eine gewisse Sensation darstellten, in beklemmend
kurzer Zeit Bestandteil des alltäglichen Stadtbildes.
Die Bombenangriffe haben bei mir bis heute Spuren hinterlassen. So erweckt
in mir der Heulton einer Sirene noch immer ängstliche Gefühle, das Dröhnen
von Hunderten B-17-Bombern6 brachte nicht nur Tische und Bänke in tiefen
Luftschutzkellern zum Erzittern, sondern ging im wahrsten Sinne des Wortes
durch Mark und Bein. Bei jeder neuen Angriffswelle krochen wir auch im Kel-
ler instinktiv unter den Tisch, um vermeintlich besseren Schutz zu finden und
vernahmen das dumpfe Beben des Bodens, das immer stärker wurde und sich
auf den ganzen Körper übertrug. Dazwischen mischte sich das Feuer der eige-
nen Flak, die auf dem Flakturm im Hof Stiftskaserne stationiert und – so glau-
be ich – mit 6,5 und 8,8-cm-Geschützen ausgerüstet war. Wenn die Flak von
der Stiftskaserne in Richtung unserer Wohnung schoss, dann zerbarsten die
Die ersten Bomben fallen
auf die Innenstadt
6 Benannt nach ihrem Hersteller, der heute hauptsächlich Touristen und Vielfliegern bekannt ist:
der Firma Boeing.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115