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Um nach schweren Angriffen möglichst rasch an die im Luftschutzkeller Ein-
geschlossenen zu kommen, wurden an den straßenseitigen Mauern große,
weiße Pfeile mit der Bezeichnung „LSR“ (Luftschutzraum) als Hinweis für den
günstigsten Punkt für eventuelle Grabungsarbeiten aufgemalt. Sie wurden –
wie könnte es in Wien anders sein – sogleich parodiert, nämlich zum Hinweis
„Lerne schnell Russisch“.
Trotz dieses Bombenterrors ging, soweit dies möglich war, das normale Le-
ben weiter.
Mein Bruder und ich gingen zur Schule, mein Vater ins Büro, meine Mutter be-
sorgte, soweit es ging, den Haushalt, denn die Lebensmittel wurden immer
knapper und die Hausfrauen berieten sich oft darüber, was man wohl am
nächsten Tag kochen könnte. Meistens waren die spärlichen „Restln“ vom Vor-
tag auf dem Speiseplan. Die öffentlichen Verkehrsmittel verkehrten einiger-
maßen fahrplangemäß, waren aber in der Regel überfüllt. Der Aktionsradius
mit der Bahn war auf 100 km begrenzt, weiter durfte man nicht fahren – und
auf jedem größeren Bahnhof prangte dieselbe Parole: „Räder müssen rollen
für den Sieg!“
Die Theater, soweit sie nicht zerstört waren, spielten noch. Man ging – so wie
heute – mehr wegen der Schauspieler, nicht des Stückes wegen ins Theater
und in Wien gab es eine große Zahl von sehr beliebten Volksschauspielerinnen
und -spielern.
Die Kinos waren voll, man musste Karten reservieren und jeden Sonntag bil-
deten sich lange Warteschlangen vor den Kassen, denn man wollte zumindest
eineinhalb Stunden von den furchtbaren Ereignissen abgelenkt werden. Am
Graben und am Beginn der Mariahilferstraße waren die Non-Stopp-Kinos im-
mer voll. Man dufte zwar nur eine Stunde verweilen und die Wochenschau
sowie einige Kurzfilme ansehen, doch es war für uns Kinder ein spezielles Ver-
gnügen, diese Stunde etwas in die Länge zu ziehen – bis uns der Billetteur
höflich, aber bestimmt aus dem Kino wies. In diesem Kino habe ich auch zum
ersten Mal einen Farbfilm gesehen: Es war dies der Zeichentrickfilm „Schnee-
wittchen und die sieben Zwerge“ von Walt Disney, es war eine Sensation und
sehr aufregend.
Nicht wenige, meistens Personen der mittleren Generation, schwärmten von
der „guten alten Zeit“, die immer zwei Generationen vor der gegenwärtigen
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115