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Meine Mutter eilte Anfang April per Badner-Bahn in das rund 26 km südlich von
Wien gelegene Baden, wo ihre Mutter, meine Großmutter, in der Pension Cor-
tella lebte. Es gelang ihr nicht, sie zu überreden, mit in die Wohnung nach Wien
zu kommen – meine Großmutter blieb in dieser Pension und hat dort auch die
Front einigermaßen gut überlebt. Später erzählte sie, dass die Soldaten der Ro-
ten Armee sie in ihrem Zimmer „besucht“ und Schmuck wie Uhren verlangt hat-
ten. Als sie einen Armreif anbot, der goldfarben war, hatte der Soldat dies so-
fort erkannt und den Armreif mit dem Ausruf „Blech!“ zu Boden geschleudert.
Auf fast abenteuerliche Weise gelang es dann meiner Mutter, zum Teil wie-
derum per Badner-Bahn, zurück nach Wien in die Wohnung zu gelangen. Da
die Bahn bereits unterbrochen und viele Heeresfahrzeuge unterwegs nach
Norden in Richtung Wien waren, wurde sie durch Autostoppen und gutes Zu-
reden auf Teilstrecken von Heeresfahrzeugen mitgenommen, bis sie dann in
Wien das letzte Stück zur Wohnung mit der Straßenbahn zurücklegen konnte.
Gleich darauf wollte sie ein Interurbangespräch nach Baden anmelden, um ih-
rer Mutter von der guten Heimkehr zu berichten, doch das Fräulein vom Wähl-
amt teilte ihr mit, dass die Leitung nach Baden unterbrochen sei, da die Rote
Armee im Raum von Wiener Neustadt stehe und Panzerspitzen den Raum Ba-
den bereits erreicht hätten.
Eines der letzten Plakate, die in ganz Wien affichiert wurden, lautete: „Wien ist
zur Festung erklärt worden. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu
verlassen.“ Nur womit und wohin, das konnte uns niemand sagen.
Es waren immer weniger Menschen auf den Straßen zu sehen und die öffentli-
chen Vergnügungsstätten wie Kinos und Theater hatten längst geschlossen.
Wir übersiedelten für die kommenden Tage und Wochen in den Luftschutzkel-
ler. Für zwei Personen wurde ein Bett, das von der eigenen Wohnung mitge-
bracht wurde, zugeteilt und nur für die Zubereitung der kargen Mahlzeit und
für das Essen eilte man in die Wohnung. Ansonsten saß man einigermaßen ge-
schützt im Keller um den Radioapparat. Es gab noch einige Genossen, die vom
Endsieg, von V1 und V2 und der „Wunderwaffe“8 faselten. Man hörte ihnen mit
halbem Ohr zu und war vorsichtig mit den Kommentaren. Die Kriegspropagan-
da lief bis zum Schluss auf vollen Touren, doch war sie mehr und mehr von
Durchhalteparolen durchsetzt. Die letzte offizielle Frontmeldung, die uns im
Luftschutzkeller per Drahtfunk erreichte, berichtete vom Fall von Budapest
und dem Vormarsch der Roten Armee in Richtung Plattensee – doch wenige
Tage später waren die Soldaten der Roten Armee schon in unserer Straße.
8 V-Waffen oder Vergeltungswaffen wurden von den Nationalsozialisten als Mittel propagiert, im
Krieg die große Wende herbeizuführen. Als ultimative „Wunderwaffe“ galt die Atombombe.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115