Seite - 62 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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62 Mein Vater, damals 53-jährig, der bisher keine Wehrausbildung erhalten hatte,
wurde im auslaufenden Winter 1945 zum Volksturm eingezogen. Im Café Ost-
ende am Wiedner Gürtel erhielt er eine kurze Einweisung zur Bedienung eines
Gewehrs mit anschließender kurzer Schießübung, bei der sich herausstellte,
dass nur falsche Munition vorhanden war, die nicht in das Gewehr passte.
Trotzdem sollte er dann vom ersten Stock dieses Hauses den Wiener Süd-
bahnhof gegen die anrückenden Truppen verteidigen. Schon nach den ersten
Schüssen eröffneten diese das Feuer auf das Haus und mein Vater zog sich
kriechend im Schutz der Hausmauer mit den anderen Volkssturm-Männern in
einen sicheren Bereich zurück. Von dort gelang es ihm durch seine Ortskennt-
nis, der SS auszuweichen und unter Lebensgefahr nach Hause zu kommen.
Erschöpft aber glücklich tauchte er dann in unserem Luftschutzkeller auf und
blieb, um nicht entdeckt zu werden, bis zum Umbruch im Keller und im Bereich
des Hauses.
Einige der Bewohner verließen den Luftschutzkeller und gingen in den Haus-
flur, wo auch einige deutsche Soldaten standen und mit uns ins Gespräch
kamen. Sie versicherten uns, bis zum Schluss kämpfen zu wollen – dies war
ihre Überzeugung und stand außer Frage. Bald verließen sie uns in Richtung
Stadtzentrum.
Genau habe ich noch das Kommen des ersten Soldaten der Roten Armee in
unsere Gasse vor Augen: Er näherte sich vom Süden, von der Margaretenstra-
ße, der Kreuzung mit der Schleifmühlgasse und verharrte kurz vor dem Uh-
rengeschäft Böhnel. Mit einem Revolver in der rechten Hand sicherte er das
Gelände für den Nachzug von Soldaten in Richtung Operngasse und Stadt-
zentrum. Einer Handbewegung in Richtung Stadtzentrum folgend, rückten
weitere Soldaten vor. Wir standen neugierig im etwas geschützten Hausflur,
abwartend, was mit uns geschehen sollte. Da fast keine Schüsse fielen, war
die Lage angespannt-ruhig. Wir dachten nur, die Soldaten könnten ja nicht alle
Zivilisten umbringen und wir hätten bald das Ärgste überstanden, denn die
deutsche Propaganda hatte nur Meldungen über die Gräueltaten der Roten
Armee verbreitet. Diese Ruhe wurde durch die ersten Einheimischen unter-
brochen, von denen die Soldaten mit den Worten „Ura, Ura“ die Armbanduhren
abverlangt hatten. Bald zeigten viele Soldaten als erste Trophäe eine große
Zahl von Uhren an ihren Unterarmen.
Schnell lernten wir noch andere, sehr wichtige russische Worte, von denen mir
die Folgenden noch in Erinnerung sind: „Davay – los, weg, saprali – stehlen, stoi –
Die Soldaten der Roten
Armee erobern Wien
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115