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halt, dobryy-den – Guten Tag, do svidaniya – auf Wiedersehen, gostpodin –
Genosse, rabonik – Arbeiter, towarisch – Genosse, spasibo – danke, voda –
Kumpel, nitschewo – weiß nicht, khorosho – in Ordnung.“
Und es rissen alle Stricke: Wir hatten keine Scheiben in den Fenstern, keine
Kohle zum Heizen, kaum etwas zu essen, kein Gas zum Kochen, nur beim Kel-
lerwandbrunnen und in den unteren Stockwerken fallweise Trinkwasser, sonst
mussten wir uns mit Kannen und Kübeln beim nächsten Hydranten anstel-
len. Ohne Strom hatten wir in der Nacht kein Licht in der Wohnung und auch
kein Öl für die Grubenlampe meines Vaters. Wir saßen um eine aus Paraffin,
mithilfe der Hülsen, die man zur Anfertigung von Schaumrollen verwendet,
selbstgemachte, rußende Kerze, bei der immer der Docht nachgeschnitten
werden musste – doch sie gab etwas Licht und Wärme. Aber die Familie war
beisammen, eine Hausgemeinschaft war eine gewisse, gegenseitig sorgende
Klammer, wir waren – bis auf eine leichte Ruhr – einigermaßen gesund und es
gab keine zermürbenden Bombenangriffe mehr. Auch konnten wir in der Nacht
einigermaßen schlafen. So machte sich langsam ein gedämpfter Optimismus
breit und ein Aufbauwille, denn wir hatten das Ärgste schon überstanden.
Es ist nicht möglich, eine scharfe Grenze zwischen der Einnahme Wiens durch
Truppen der Roten Armee, dem Durchgang der Front und der Nachkriegszeit zu
ziehen, vor allem auch deshalb, weil erst am 8. Mai der Waffenstillstand unter-
zeichnet wurde und vorher über längere Zeit die Donau die Frontlinie zwischen
den Soldaten der Roten Armee im Süden und den deutschen Truppen jenseits
der Donau, die noch erbitterten Widerstand leisteten, bildete. Wir hörten Tag
und Nacht das Artilleriefeuer, nur die zermürbenden amerikanischen Boden-
und Tieffliegerangriffe hatten ihr Ende gefunden: Alle waren erleichtert.
Mein Bruder bastelte ein Detektorradio mit einem Kristall zusammen und
konnte auf diese Weise ohne Strom über Kopfhörer die Nachrichten- und Mu-
siksendungen des Rundfunks hören. Bald erschienen die ersten Zeitungen
und Illustrierten in Farbe – eine kleine Sensation.
Eines Nachts eilte mein Bruder plötzlich zum Fenster, blickte auf die Schleif-
mühlgasse hinunter und brüllte nur: „Raus!“ Ein heller Feuerschein erhellte
die Gasse: Im Erdgeschoß des Nebenhauses brannte lichterloh ein Geschäft.
Wir dachten alle: „Jetzt, nach dem Krieg, hat es uns erwischt und unser Haus
brennt ab.“ Sofort warfen wir uns in die Kleider und stolperten eilig das fins-
tere Stiegenhaus hinunter, nahmen Feuerpatschen und Eimer mit Wasser mit,
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115