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64 um den Brand zu löschen. Mehrere Leute waren schon vor dem brennenden
Geschäft versammelt und bekämpften, so gut es ging, den Vollbrand. Plötz-
lich tauchte jemand mit einem Feuerwehrschlauch auf, der Schlauch schwoll
an und ein erster Wasserstrahl dämmte zischend das Feuer ein. Es war wie ein
Wunder. Bald war der Hauptbrand unter Kontrolle, nur kleine Glutnester und
ein intensiver Rauchgeruch waren am nächsten Morgen Zeugen von diesem
nächtlichen Abenteuer. Das Geschäft, es war ein Modegeschäft für Damen
und auf Dessous spezialisiert, wurde sofort von Einheimischen wie Soldaten
geplündert, was aber nicht besonders auffiel. Auffällig war nur die Tatsache,
dass in den nächsten Tagen viele Pferde, die vor den Panjewagen gespannt
waren, plötzlich rosafarbene Schutzdecken trugen, die beidseitig unter dem
Kummet hervorlugten und Damenmiedern nicht ganz unähnlich waren.
In den von Soldaten der Roten Armee besetzten Bezirken wurde in Mittel-
schulen Russisch als Pflichtfach gelehrt, sehr zum Unwillen der Schüler. Da in
unmittelbarer Nähe unserer Wohnung später Besatzungssoldaten mit ihren
nachgekommenen Familien einzogen und diese auch in österreichischen Ge-
schäften ihre Einkäufe tätigten, kamen wir auch mit ihnen in eine lose Verbin-
dung. So habe ich auch etwas Russisch aufgenommen, das mir heute noch in
vielen Belangen hilfreich ist.
Der erste Schock hatte sich bald gelegt, wir gingen jeden Abend in den Luft-
schutzkeller und harrten der Dinge, die kommen sollten. Die Stimmung war
gedämpft, doch nicht desperat.
Das Schlafen zu zweit in einem Bett, das Ausharren und Nachsehen, was sich
draußen abspielt, gehörten zum tagtäglichen Ritual. Zudem auch das immer
wiederkehrende Kommen von Soldaten, die vor allem nach deutschen Wehr-
machtsangehörigen suchten und dabei nicht nur den Keller, sondern alle Woh-
nungen des Hauses durchsuchten. War eine versperrt, dann genügte ein kräf-
tiger Schlag mit dem Gewehrkolben und die Tür sprang auf. So begleiteten wir
sofort die Soldaten und hatten auch alle Wohnungsschlüssel parat, um sofort
die Wohnung öffnen zu können.
Auch Einquartierungen von Soldaten waren spontan möglich. Eine solche er-
folgte in einer Wohnung im ersten Stock unseres Hauses. Die Soldaten nah-
men die Wohnung in Beschlag und die Mieter konnten nur das Wichtigste mit-
nehmen. In der allgemeinen Panik hatten sie alle Dokumente in der Wohnung
zurückgelassen und waren ziemlich verzweifelt. Also beschrieben sie meinem
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115