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älteren Bruder genau, wo die Dokumente lagen und wie er diese herausholen
könne. Da die Soldaten nie gegen Kinder oder alte Leute vorgingen, konnte
mein Bruder durch das Bringen von Brennholz für das Badezimmer und ande-
re Dienste ein gewisses Vertrauensverhältnis aufbauen und es gelang ihm,
in weitere Bereiche der Wohnung vorzudringen und schließlich an die Papiere
heranzukommen. Überglücklich waren die Besitzer, als sie ihre Dokumente in
Empfang nehmen konnten.
Die ersten Tage und Wochen der Besatzung waren alles andere als lustig:
Überall wurde geplündert, nicht nur von den Soldaten, auch viele Einheimische
benützten die aufgebrochenen Geschäfte und Magazine zur Selbstbedienung.
Es gab nach der Zeit (und leider auch vor der Zeit) von Hunger und Entbehrun-
gen viel kostenlos zu holen. In unserer Nähe befand sich ein gutes Delikates-
sengeschäft. Meine Mutter bat noch vor Ostern die Inhaberin, die sie gut und
lange kannte, um eine Flasche Wein und etwas Wurst und Fleisch für das Fest.
Sie wurde barsch ob eines solchen Ansinnens abgewiesen, da ja alles für den
Krieg bewirtschaftet sei und darüber hinaus auch nicht vorhanden war: „Deut-
sche Frau, wir befinden uns im totalen Krieg!“ Wenige Wochen später brachen
die Soldaten das Geschäft und auch den Weinkeller auf und schossen mit der
MP in die vollen Fässer, sodass sie schließlich im Wein wateten.
Im Nebenhaus wohnten zwei kinderlose Ehepaare, die durch die Propaganda
große Angst vor den Soldaten der Roten Armee hatten. Auch dürften sie über-
zeugte Nationalsozialisten gewesen sein, was diese Angst noch verstärkte.
Jedenfalls, als wieder einmal die Soldaten ins Haus kamen, um die Wohnungen
zu durchsuchen, verhandelten die Männer an der Wohnungstüre mit diesen,
während die Frauen nach vorheriger Absprache mit ihren Gatten eine große
Menge des Schlafmittels Veronal einnahmen. Sie hatten von langer Hand vor-
bereitet, im Fall des Falles so zu handeln, um nicht lebend dem Feind in die
Hände zu fallen. Wir wurden herbeigerufen und fanden die beiden Damen in
den Ehebetten schlafend vor und wussten nicht, was wir tun sollten. Ein Ma-
genauspumpen wäre theoretisch möglich gewesen, aber zu dieser turbulen-
ten Zeit undurchführbar. Es war aber vereinbart gewesen, dass die Ehemänner
auch Veronal nehmen sollten, doch zögerten sie, da sie nicht wussten, ob die
Menge Veronal bei den Frauen zum Tod führen würde und sie vermeiden woll-
ten, dass am Ende ein Ehepartner verstarb, während der andere überlebte. So
saßen wir alle an den Betten und warteten ab. Schließlich entschliefen beide
Frauen. Die Witwer waren ratlos und keiner konnte ihnen helfen. So fassten
sie schließlich den Entschluss, sich doch nicht umzubringen. Vor uns lagen in
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115