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Es wurde besser, aber nur sehr, sehr langsam. Man gewöhnte sich an die be-
grenzten sanitären Einrichtungen, das Tröpfeln von Wasser aus dem Wasser-
hahn und die Gespräche drehten sich um die Frage, wo man vielleicht etwas zu
essen bekommen könnte. Ich kann nicht mehr sagen, womit wir uns in dieser
Zeit ernährt haben. Wir waren alle stark abgemagert, meine Mutter hatte seit
Beginn des Krieges rund ein Drittel ihres Gewichts verloren – sie brach einmal
in der Toilette zusammen („Mir wurde plötzlich Schwarz vor den Augen.“) –,
mein Vater, ein leptosomer Typ wie ich, verlor auch viel an Gewicht und ich
hatte Ruhr und war mehr als schlank. Wir waren so schwach, dass wir uns
beim Gehen an der Hausmauer mit einer Hand abstützen mussten und vor
den kaum frequentierten Kreuzungen innehielten, um die nötige Kraft für das
Überqueren der Straße zu sammeln.
Jahre später, als ich schon in der 6. Klasse Mittelschule war, textete ein
Schulkollege für den Sitzplan in der Klasse unter Bezugnahme auf meine
Statur: „Othmar Nestroy, das Skelett, wird im Leben niemals fett.“ Er sollte
recht behalten.
Die erste Gruppe von Soldaten durchsuchte alles, vor allem nach deutschen Of-
fizieren, weiter wurde aber auch alles, was nicht niet- und nagelfest war, „orga-
nisiert“. Daran waren auch Einheimische beteiligt, die sich die aufgebrochenen
Läden und Keller zunutze machten und sich an diesen Aktionen beteiligten.
Bei diesen Durchsuchungen stießen die Soldaten auch auf zoologische Präpa-
rate, die vom Theresianum, ehemals NAPOLA, in den Keller der Paulanerkirche
verlagert worden waren. Einige Präparate waren in Glaszylindern auf senk-
rechten Milchglas- oder Porzellanscheiben mit Drähten befestigt. Die Zylinder
waren üblicherweise mit Spiritus gegen die Austrocknung der Präparate ge-
füllt. Diese bräunliche Flüssigkeit erregte bei vielen Besatzungssoldaten ein
besonderes Verlangen und nach Abschlagen des Zylinderkopfes wurde der
„veredelte“ Brennspiritus in einen anderen Hohlraum umgefüllt.
Sehr bald nach Kriegsende begann eine Naturalienwirtschaft, die bald selt-
same Blüten trieb. Interessanterweise war einer der ersten Umschlagplätze
der Resselpark, das kleine Geviert zwischen der Evangelischen Schule und der
Wiedner Hauptstraße im Bereich des Karlsplatzes, der bis heute seinen spe-
ziellen Reiz für offiziöse Handlungen nicht verloren hat. Soldaten der Besat-
zungsmacht wie Einheimische fanden bald Kontakt und der Schleichhandel
begann sich zu etablieren. Woher die Waren kamen, kann ich nicht sagen. Ich
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115