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Wir sind – ich weiß nicht, auf welche Weise – mit Rucksäcken hingefahren und
durften auf den abgeernteten Getreidefeldern die stehengebliebenen Ähren
abschneiden und die auf den Boden liegenden einsammeln. Wir machten dies
mit normalen Scheren und konnten die Rucksäcke mit dem köstlichen Gut
vollstopfen. Daheim baute mein Vater, der sehr geschickte Hände besaß, eine
kleine Windmühle aus Pappendeckeln, durch die in der Küche Spreu vom Wei-
zen getrennt werden konnte. Die Körner haben wir dann in der Mohnmühle ge-
rieben, das Vollkornmehl mit Wasser vermischt und den Teig dann im Rohr ge-
backen. Es sah nicht allzu schön aus, aber es füllte einigermaßen den Magen.
Bald nach Kriegsende wurden über den „Mundfunk“ Hamsterfahrten organi-
siert. Diese waren jedoch mit beachtlichen physischen Belastungen verbun-
den. Die Abfahrt einer solchen Hamsterfahrt erfolgte frühmorgens bei einer
Spedition in der Nähe des Wiener Westbahnhofs – wir mussten (natürlich) zu
Fuß von der Schleifmühlgasse dorthin gehen. Der Lkw war notdürftig für den
Personentransport adaptiert: Im Laderaum wurden, wie bei den Heeresfahr-
zeugen, in der Längsrichtung Holzbänke fixiert und nur eine einfache Plane
diente als Schutz gegen Kälte, Wind und Regen. In diesem Ambiente ging die
Fahrt über die nur zum Teil asphaltierte und holprige B 1 von Wien in Richtung
Pöchlarn, wo es eine kurze Erholungspause zum Vertreten der Füße gab.
Dann ging es weiter in Richtung Pregarten. Da die Grenze zwischen Nieder-
und Oberösterreich im Bereich von Enns und Mauthausen über einer längere
Strecke in der Strommitte de Donau verläuft, und dieser Teil Oberösterreichs
zur russischen Besatzungszone gehörte, war ein Grenzübergang an der (le-
gendären) Ennsbrücke in die amerikanische Besatzungszone mit Risiken und
großem Zeitaufwand verbunden. So erfolgte die Donauquerung bei Ennsdorf
auf niederösterreichischem Gebiet. Für diese Querung stand jedoch nur eine
Eisenbahnbrücke zur Verfügung, auf der in aller Eile nach Kriegsende mittels
Holzbohlen auf beiden Seiten und zwischen den Geleisen ein gleiches Niveau
geschaffen worden war, das auch von Pkws und Lkws befahren werden konn-
te. Während einer solchen Donauquerung kam uns einmal ein Zug entgegen.
Da man langsam und auf Sicht fuhr, legte der Lenker des Lkws routiniert den
Retourgang ein und stieß vorsichtig zurück, bis er das Ende der Brücke erreicht
hatte und durch einen Schwenk für den Zug die Geleise freigeben konnte –
man hat sich kaum darüber aufgeregt.
Von Pregarten ging dann auf klapprigen und hart gefederten Fahrzeugen auf
staubigen Straßen die Fahrt zu den bekannten Bauern weiter. Einschub
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115