Seite - 78 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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78 Da bis auf die Reichbrücke alle Brücken über die Donau und über den Donauka-
nal von den deutschen Truppen gesprengt worden waren, wurden notdürftige
Übergänge von Pionieren der Roten Armee sofort in Angriff genommen. Ich
erinnere mich noch an die hölzerne Aspernbrücke bei der Urania, die sogar von
der Straßenbahn befahren werden konnte, und auch an die anderen Brücken
über den Donaukanal, die zum Teil im Wasser lagen und über die man nur über
einen provisorischen Holzladen und weiter über Teile der genieteten Bogen-
konstruktion mit Schwindelfreiheit und etwas akrobatischen Fähigkeiten an
das andere Ufer gelangen konnte. Es bestand entweder Einbahnverkehr mit
Wartepflicht, oder man ging jeweils in zwei Reihen diszipliniert knapp hinterei-
nander, denn soweit ich mich erinnern kann, gab es kein Geländer.
In der Wohnung hatten wir auch keine Scheiben in den Fenstern und keine rich-
tige Heizung. Notdürftig hatten wir mit den Brettern der Jalousie, mit Pappen-
deckeln und Sperrholz die Fenster abgedichtet und nur ein schmaler Schlitz
brachte etwas Licht in die Wohnräume. So war es nicht mehr so kalt im Winter,
denn schon mehrmals hatte ich unter Frostbeulen an den Händen und Armen
gelitten. Vor dem Schlafengehen legten wir einen im Ofen angewärmten und
von Stoff ummantelten Ziegelstein zum Fußende in das Bett, da das Einschla-
fen mit kalten Füßen zu lange dauerte.
Die ersten „Institutionen“, die nach Kriegsende wieder öffneten, waren Gast-
häuser. Die Fenster waren zwar ohne Scheiben, die Heizung kaum zu spüren,
doch Durst und Hunger trieben die Wiener in diese heimeligen Lokalitäten. Mit
Absicht nenne ich an erster Stelle den Durst, denn dieser konnte schon im
Herbst 1945 mit Most und Sturm aus dem Weinviertel gestillt werden. Ganz
in unserer Nähe war das Restaurant „Zum goldenen Hechten“, wo man diese
köstlichen Flüssigkeiten im Herbst 1945 wieder käuflich erwerben konnte. Wie
Most und Sturm aus dem russisch besetzten Weinviertel nach Wien gelangen
konnten, ist mir bis heute ein Rätsel, doch sie waren da – und auch in ausrei-
chender Menge und guter Qualität. So haben wir mit der gesamten Hausge-
meinschaft im Herbst 1945 in unserer Wohnung zum ersten Mal das Ende des
Krieges und das Überleben gefeiert. Es gab wenig bis nichts zu essen und nur
Sturm aus dem oben genannten Restaurant zu trinken. Wir alle waren extrem
abgemagert und vertrugen fast nichts, sodass schon bald der Alkohol seine
positive wie negative Wirkung zeigte: Wir waren schlicht und einfach glücklich
und gut aufgelegt. Mein Bruder, ein Freund von ihm und mir wurde die (eh-
rende) Aufgabe zuteil, für Nachschub von dem köstlich Nass vom „Hechten“
zu sorgen. So mussten wir uns oft auf den Weg von rund fünf Minuten ma-
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115