Seite - 104 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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104 sich noch lange nach diesem Ereignis bei der Erzählung – ein sehr köstlicher
Anblick geboten, als die Damen in ihrer mehr als spärlichen „Dienstkleidung“,
zitternd vor Angst und Kälte, die Kanonenrohre der fahrenden Panzer um-
klammerten und auf diesen ins Hinterland flüchteten.
Die zweite Episode bezieht sich auf Kulinarisches.
Für jede Einheit gab es ein umfangreiches Lebensmitteldepot, meist am Rande
der eingerichteten Stellung. Dort mussten täglich die für die Mannschaft vor-
gesehenen Lebensmittel ausgefasst werden. Herr H.W. war in dieser Woche
dafür eingeteilt und kam auch diesem Auftrag gewissenhaft nach, vielleicht
ein wenig zu gewissenhaft, da er eines schönen Tages etwas mehr an Spiritu-
osen für eine kleine Feier wollte, als offiziell vorgesehen war. Es kam daher mit
dem diensthabenden Soldaten zu einem lautstarken Wortgeplänkel, im Zuge
dessen an deftigen Ausdrücken, die hier verständlicherweise nicht wiederge-
geben werden können, nicht gespart wurde. Jedenfalls fuhr Herr H.W. nur mit
der üblichen Tagesration zurück zu seiner Truppe.
Doch für den kommenden Tag wurde eine neue Strategie ausgeheckt. Wäh-
rend Herr H.W. wiederum den diensthabenden Soldaten in ein heftiges Wort-
geplänkel verstricken sollte, würden die mitfahrenden Kumpel zur Rückseite
des Magazins fahren, um dort dann die vorgesehenen Spirituosen zu „orga-
nisieren“. Gesagt, getan – die Sache verlief wie geplant. Während Herr H.W.
vorne im Wortstreit stand, wurde hinten eifrig gearbeitet und die gewünsch-
ten Flüssigkeiten verladen. Auf ein Zeichen brach mit nicht gerade schmei-
chelnden Worten Herr H.W. das Gespräch ab und die Truppe fuhr nach getaner
Arbeit auf dem überladenen Lkw zur Einheit zurück. Die Tat blieb unbemerkt,
denn am folgenden Tag machte der Volltreffer einer Granate in wenigen Au-
genblicken das Vorratslager dem Erdboden gleich.
Herr H.W. kam aus der Gefangenschaft gut zurück, ungebrochen an Körper
und Seele und war dann über Jahrzehnte nicht nur wissenschaftlich tätig, son-
dern auch eine äußerst beliebter akademischer Lehrer, der im wahrsten Sinne
des Wortes aus dem Vollen schöpfte, da er sein Fachwissen nicht nur aus den
Büchern, sondern auch aus der unmittelbarer Erfahrung bezog und es plas-
tisch an die akademische Jugend weiterzugeben verstand.
Er verstarb hochbetagt in Wien.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115