Seite - 108 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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108 Dies ist aber nur der erste Teil der Kriegszeit des Herrn J.L.
Ohne Matura und ohne einen Lehrabschluss versuchte er, in der Heimat wie-
der Fuß zu fassen. Dies gestaltete sich sehr schwierig, da ihm nur Posten an-
geboten wurden, für die er überqualifiziert war und daher ablehnte. Auf der
anderen Seite hatte er für eine höherwertige Position keine adäquate Ausbil-
dung. Dies führte zwangläufig zu psychischen Problemen, dazu kam noch eine
zerbrochene Ehe. Er arbeitete über Jahrzehnte als Magazineur in einer großen
Firma, fand dort aber weder an der Arbeit Befriedigung, noch fand er voll in das
bürgerliche Leben zurück. Er starb zurückgezogen und resigniert als Mittsieb-
ziger nach kurzem Leiden.
Herr A.G. war als Verwalter eines großen landwirtschaftlichen Gutes vorge-
sehen und hatte sich schon seit der Matura auf diese Laufbahn orientiert.
Doch bei seinen Einsätzen an der Ostfront wurde er mehrmals verletzt, verlor
ein Auge, hatte aber trotz dieser Schicksalsschläge – Originalton: „Wir haben
unsere Knochen auf den Markt getragen.“ – seinen Plan für diesen landwirt-
schaftlichen Beruf nicht aufgegeben.
So inskribierte er nach Rückkehr aus der Gefangenschaft das Studium der
Landwirtschaft und verfasste als Enddreißiger eine umfangreiche Dissertati-
on über ein bodenkundliches Thema. Trotz all dieser Bemühungen und seines
unermüdlichen Fleißes gelang ihm aber der vollkommene Einstieg in die ge-
wünschte Berufslaufbahn nicht. So musste er sich mit einer mittleren Posi-
tion zufrieden geben und sich auch dort zurechtfinden – die Erfüllung seiner
Berufsvorstellungen wurde trotz aller persönlichen Anstrengungen durch den
Krieg vereitelt.
Herr H.T. war in der Deutschen Wehrmacht ein perfekter Funker. Durch diese
Funktion musste er meist nicht in der HKL stehen, sondern konnte in relativer
Sicherheit seinem Dienst nachkommen. Ich bewunderte seine Fertigkeit und
Geschwindigkeit im Senden und Empfangen von Morse-Meldungen, alles lief
fast im Unterbewusstsein ab. Bald nach dem Krieg und der Gefangenschaft
kehrte er ohne physische Verletzungen zurück und begann mit Schwung und
Eifer, seine Berufslaufbahn aufzubauen. Dies gelang nur sehr holprig, da er
eine junge Familie hatte, mit der er in einer kleinen Wohnung lebte, und ne-
ben dem Beruf noch eine Abendschule besuchte. Bei dieser vollen Belastung
gab es über Jahre kaum Freizeit. Dennoch hat es Herr H.T. geschafft, voll in
das Leben eines Freiberuflers einzutreten: Nach seiner Beschäftigung als
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115