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Buchhalter in einer Firma machte er sich selbstständig, eröffnete eine eigene
Steuerberatungskanzlei und konnte am Lebensende auf ein erfülltes Berufs-
leben zurückblicken.
Herr H.W. war ausgebildeter Jurist und infolge seines Jahrgangs musste er so-
wohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg einrücken. Er hat rückblickend
oft gesagt, dass er mehr als die Hälfte seine Dienstzeit im Felde und in Gefan-
genschaft verbracht hat.
Da er als Jurist bald als Kriegsgerichtsrat eingesetzt worden war, hat er nur
sehr wenig über die Zeit des Zweiten Weltkriegs gesprochen: Es war für ihn
noch Jahrzehnte nach dem Krieg zu belastend. Die wenigen Schilderungen
beziehen sich deshalb auf seinen Einsatz zu Kriegsbeginn in Belgien, dann
in Russland.
Auf jede Form der Zersetzung der Wehrkraft stand die Todesstrafe. So wurde
Zivilpersonen und Deserteure in den von den Deutschen besetzten Ländern
wie Belgien und den Niederlanden, die sich des Tatbestandes der Zersetzung
der Wehrkraft schuldig machten, nur ein kurzer Prozess gemacht und sofort
die Exekution durchgeführt. Wurde während des Verfahrens dieser Tatbe-
stand erkannt, musste jeder Richter, so auch Herr H.W., seine Paraphe unter
das Urteil setzen. „Hätte ich nicht meine Krax’n unter das Urteil gesetzt“, so
die Aussage von Herrn H.W., „wäre ich der Nächste gewesen.“
Zu dieser psychischen Belastung kam noch eine zweite dazu.
Am Abend des Gerichtstages wurde im Rundfunk von den Exekutionen berich-
tet, ergänzt mit Nennung der Namen jener Richter, die das Urteil unterzeich-
net hatten. Auch der volle Name des Herrn H.W. wurde genannt. Dazu kam
noch der Hinweis, man solle sich die Namen der Richter gut merken.
Später wurde Herr H.W. als Kriegsgerichtsrat in den Bereich der Ostfront ab-
kommandiert und musste in der gleichen Form Fälle von Zersetzung der Wehr-
kraft beurteilen. So erzählte er mir von dem folgenden Fall. Im Zuge der Win-
terhilfssammlung wurden für die Soldaten an der Front warme Kleidungsstü-
cke von Privaten eingesammelt und an die Front geschickt. Von einem dieser
Transporte holte ein Mann ein Paar Wollfäustlinge von einem Lastwagen her-
unter. Dabei wurde er beobachtet, angezeigt und kam vor das Kriegsgericht,
angeklagt wegen Zersetzung der Wehrkraft. Da diese von den Richtern als
erwiesen erkannt wurde, erfolgte nach einem kurzen Prozess die Exekution
des Angeklagten.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115