Seite - 110 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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110 Trotz dieser beklemmenden Umstände wurde selbst in der Offiziersmesse
oftmals herablassend auf die (ehemaligen) Österreicher gesehen, so blieben
gewisse spitze Bemerkungen nicht aus. Eine davon erzählte mir Herr H.W.: Als
er beim Essen einen Erdapfel mit dem Messer zerschnitt, wurde ihm von einem
Kameraden aus dem Altreich die schnippische Frage gestellt, ob es in der Ost-
mark üblich sei, die Pellkartoffel mit dem Messer zu schneiden. Die Antwort
des Herrn H.W. war auch nicht gerade freundlich und lautete: „Bei uns war das
im Krieg unwichtig.“
Die Wohnung von Herrn H.W. in einer österreichischen Großstadt wurde drei
Mal von Bomben heimgesucht („Die Bomben verfolgen uns.“) und immer stark
in Mitleidenschaft gezogen; von seiner Wohnungseinrichtung war nach Kriegs-
ende praktisch nichts mehr vorhanden. Nach Kriegsende und Gefangenschaft
gelang es Herrn H.W. trotz der enormen psychischen und physischen Belas-
tungen wie auch der materiellen Verluste, beruflich wieder voll Fuß zu fassen.
Er konnte über Jahre bis zur Pensionierung erfolgreich in einer führenden Po-
sition arbeiten.
Herr W.S. wurde, knapp 18-jährig, an der Ostfront von einem Russen durch
einen Gewehrschuss am rechten Oberarm schwer verletzt. Ein Durchschuss
verursachte den Verlust eines Teils des Oberarmknochens sowie von Muskel-
und Hautmasse. Nach starkem Blutverlust kam er gerade noch zum Haupt-
verbandplatz und wurde sofort operiert, wodurch der Arm gerettet werden
konnte – wenn auch etwas verkürzt, in der Bewegung eingeschränkt und mit
einer beachtlichen Vertiefung.
Trotz dieser Behinderung und ständigen Schmerzen begann durch Zähigkeit
Herr W.S. sein Studium an der Universität, doch gelang es ihm nicht, zu einem
Abschluss zu kommen. Die Interessen dieses hochintelligenten Mannes waren
zu breit gestreut – er war an Sprachen begeistert und konnte mehrere Cen-
tum- und Satem-Sprachen nahezu fließend –, sodass ein Studienabschluss in
immer weitere Ferne rückte.
Infolge seiner langjährigen Anwesenheit am Institut gehörte er – im guten
Sinne des Wortes – fast dem lebenden Inventar an und wurde gewissermaßen
zu einem Tutor, speziell für die Studenten der ersten Semester. Er nahm vie-
len die Schwellenangst und war oft der „väterliche“ Begleiter in der Studien-
eingangsphase.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115