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Edward Timms
Zum Geleit
Die Aufzeichnungen einer „tiefverzweigten“ Frau
Für den Strukturwandel der Wiener Öffentlichkeit am Anfang des 20. Jahrhunderts
waren die Leistungen von Frauen in innovativen Berufen von besonderer Bedeutung.
1905 war Erica Conrat die erste Frau, die das Studium der Kunstgeschichte an der
Universität Wien mit einem Doktorat abschloss – sie promovierte über den Bild-
hauer Georg Raphael Donner. Im selben Jahr heiratete sie ihren Studienkollegen
Hans Tietze. Beide sollten zu einflussreichen Kunsthistorikern werden, allerdings in
unterschiedlichem Tempo, denn Erica kümmerte sich zunächst um die vier Kinder,
die aus der Ehe hervorgingen. Wie sie die Prioritätsfrage löste, geht 15 Jahre später
aus ihrem Tagebuch hervor, als sie Gedichte zu schreiben begann. Ein hohes Ziel zu
verfolgen hätte verlangt, „Egoist“ zu sein und „Scheuklappen“ zu tragen, doch sie sei
viel breiter veranlagt : „So wie ich erst Frau, Mutter und dann erst Kunsthistorikerin
war, so bin ich auch jetzt der viel- und tiefverzweigte Mensch
– und dann Dichterin.“
(Eintrag vom 15. August 1923.)
In der Wiener Kunstszene waren Ericas Beziehungen ebenso weitverzweigt wie
tief verwurzelt. Anfang der 1920er-Jahre, als die hier vorgelegten Tagebücher ein-
setzen, war die Vernetzung der Tietzes sowohl mit den staatlichen Einrichtungen
als auch mit den innovativen Kulturströmungen Wiens weit entwickelt. Persönliche
Kontakte pflegte Erica nicht nur mit Beamten aus den Ministerien, sondern auch
zu Vertretern der Avantgarde, wie zum Beispiel zu Oskar Kokoschka und Friedrich
Kiesler in der bildenden Kunst und Alma Mahler und Josef Matthias Hauer in der
Musik. Nicht nur zum bürgerlichen Publikum hatte Erica Tietze-Conrat Zugang,
etwa durch kulturgeschichtliche Vorträge in der Urania, sondern auch zu den Lesern
der Arbeiter-Zeitung dank freundlicher Kontakte zum Leiter der Sozialdemokrati-
schen Kunststelle, David Josef Bach.
Gerade die Kontaktfreudigkeit dieser vielseitigen Frau wird in den vorbildlich
kommentierten Tagebüchern belegt. In den Tagebüchern werden zahlreiche solche
Begegnungen beschrieben. Am 1. November 1923 zum Beispiel notierte Erica ihre
Eindrücke nach einem Besuch bei den „Künstlerinnen“ des Hagenbundes : „So viele
haben mich gekannt – mir war schon ganz unheimlich, wie lang ich schon in d. Be-
trieb drinnen stecke.“ Nachher sei sie „durch die Stadt mit einer Melodie im Ohr“ zur
Galerie Würthle geschlendert, und auf einmal seien ihr fünf Gedichtszeilen einge-
fallen :
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien