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Alexandra Caruso
Zur Spanienreise
Als Tietzes 1926 ihre Reise nach Spanien antraten, war ihre bürgerliche Existenz ins
Wanken geraten. Nach dem Ausscheiden aus dem Ministerium sollte Hans Tietze,
entgegen anfänglich noch gehegten Hoffnungen (TB 1925), keine offizielle Stellung
in Österreich mehr bekleiden. Die Reise stellte für beide eine persönliche Zäsur dar
und den Versuch, erhobenen Hauptes und mit sinnlicher und intellektueller Begeis-
terung den neuen Lebensabschnitt zu wagen.
Seit dem 19. Jahrhundert zählte die Iberische Halbinsel zu den Traumzielen mit-
teleuropäischer Künstler und Kunstwissenschaftler. Obzwar die spanische Kunst
nicht zu ihren primären Interessengebieten gehörte, besteht kein Zweifel, dass beide
mit der wichtigsten kunsthistorischen Literatur zur Region vertraut waren. Ange-
sichts der Ungeniertheit Erica Tietze-Conrats im Umgang mit Fremdsprachen
– das
Spanische wird auf der Reise kurzerhand „italienisiert“ – kann selbst eine Lektüre
von Werken im spanischen Original nicht ausgeschlossen werden.
Neben kunstwissenschaftlicher Literatur stand ihnen der beliebte „Baedeker“ –
wenn auch in einer stark veralteten Ausgabe („der Baedeker ist von 1912 !“) – zur
Ver fügung. In diesem „Guide“ fanden Tietzes eine zwar stellenweise überholte, doch
durchaus orientierende Quelle auf partiell wissenschaftlichen Grundlagen, die es nö-
tigenfalls zu korrigieren galt („Hier machen die Korrekturen u. Ergänzungen, die wir
bei dieser Gelegenheit immer an d. Baedeker vornehmen, viel Spaß“). Der kunst-
historische Teil des Reiseführers war von Carl Justi verfasst worden, jenem deutsch-
sprachigen Kunsthistoriker, der sich als Erster der Kunst der Iberischen Halbinsel
zugewandt hatte. In eben jenem Jahr ist Hans Tietze mit dem kunstgeschichtlichen
Beitrag im Österreich-Baedeker selbst zum wegweisenden Autor geworden.1
Das Land wird mit der Eisenbahn bereist, die Topografie der Landschaft im Vor-
beiziehen begriffen. Die Begehung der Orte erfolgt zweckorientiert, den Baedeker
zur Hand, stets nach dem gleichen Schema : vom Hotel (möglichst bahnhofsnah)
in die Bildergalerie, zum Dom, dem „Klösterlein am Rande“, dazwischen zur Beru-
higung des Blicks eine Aussicht. Spanien mit seinen außereuropäischen Einflüssen
und den bunten Volksvergnügungen ist ein exotischer Höhepunkt ! Meist gelingt es,
das Fremde mittels Vergleichen mit Vertrautem zu entkräften. Angesichts des bisher
noch nie Gesehenen müssen oftmals das solide verinnerlichte Italien, Werke der nie-
derländischen Genremalerei oder heimatliche Folklorestätten wie Wienerwald und
Salzkammergut herhalten („Hinreißend der Park. Wie ein toll gewordener Wiener
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien