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Es ist schwierig, heute schon zu sagen, ob diese Erscheinung den Beginn einer neuen
Grenzverschiebung bedeutet; unwillkürlich wird man aber durch sie daran erinnert, daß
seit einigen Decennien alle Gletscher in den Ostalpen wieder im Rückgange begriffen sind,
und es wäre nicht unmöglich, daß beiden Vorgängen dieselbe Ursache zu Grunde liegt,
daß nämlich das kontinentale Klima des Ostens seinen Einfluß wieder auf weitere Kreise
nach Westen auszudehnen beginnt. Das Eine geht wohl aus allen diesen Erscheinungen
unzweifelhaft hervor, daß die Grenzen der Florenreiche, wie sie sich gegenwärtig darstellen,
nicht zu allen Zeiten die gleiche Lage und Richtung einhielten und ebensowenig für die
Zukunft als eudgiltige und unverrückbare angesehen werden dürfen.
Sowie aber die Gesammtheit der Gewächse, welche wir als eine Flora auffassen,
ihre eigene Geschichte hat, ebenso jede einzelne Pflanzenart. Es ist überaus merkwürdig
zu sehen, wie innerhalb einer jeden der vier Floren bestimmte Arten zeitweilig in Aufnahme
kommen, andere Arten verdrängen, schließlich aber selbst wieder vom Schauplatze
verschwinden können, ohne daß man immer mit Sicherheit Veränderungen des Klimas,
Umgestaltungen des Bodens oder den Einfluß der Menschen zur Erklärung dieser Vorgänge
herbeiziehen könnte. Pflanzenarten, welche im Wiener Becken noch im vorigen Jahrhundert
zu den verbreitetsten gehörten, wie z. B. Lki^santkemum seFetum, sind hier gegen-
wärtig spurlos verschwunden, während man an derselben Stelle anderen erst im Laufe
unseres Jahrhunderts in Aufnahme gekommenen Arten dermalen auf Schritt und Tritt
begegnet. Ähnliches ist auch aus anderen Theilen Österreich-Ungarns bekannt, und es
unterliegt keinem Zweifel, daß sich auch innerhalb der Grenzen eines Florenreiches
Verschiebungen der Wohnsitze einzelner Pflanzenarten vollziehen, ja daß selbst Veränderungen
der Grenzen einzelner Gaue auf diese Weise entstehen können. Wenigstens für die baltische
und poutische Flora, die in ununterbrochenem Zuge weite Laudstreckeu bevölkern und in
deren Reichen den Expansionsbestrebungen und schrittweisen Wanderungen einzelner Arten
ein weiter Spielraum gegeben ist, erscheint diese Annahme unbedingt gestattet. Die alpine
Flora dagegen, welche nicht ein zusammenhängendes weites Gelände, sondern nur die
isolirten Höhen der Hochgebirge als ebensoviel? Inseln bewohnt, ist gegenwärtig gewisser-
maßen stationär geworden. Es liegt wenigstens kein einziger Fall einer in der Gegenwart
erfolgten Wanderung und Übersiedlung von Arten aus dem Gebiete der einen auf das
Gebiet einer benachbarten alpinen Insel vor, und es ist daher ausgeschlossen, daß die
zahlreichen Grenzlinien der Wohnsitze einzelner alpinen Arten, deren früher bei Besprechung
der alpinen Flora gedacht wurde, sich erst in jüngerer Zeit herausgebildet haben sollten.
Es ist von denselben vielmehr anzunehmen, daß sie alle noch aus der Zeit her datireu, in
welcher die alpine Flora — ähnlich wie heutzutage die baltische und pontische Flora —
weite ununterbrochene Striche Landes bevölkerte.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Übersichtsband, 1. Abteilung: Naturgeschichtlicher Teil, Band 2
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Übersichtsband, 1. Abteilung: Naturgeschichtlicher Teil
- Band
- 2
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.77 x 26.41 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch