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dem Sinne der Zeit, deren Vorzüge und Schwächen sich in Josefs Wesen spiegeln. Anders
lagen die Dinge in Ungarn nnd in den Niederlanden, wo die alten Rechte noch bestanden
und wo sich alles in die Frage zuspitzte, ob man die freie Form des politischen Daseins
höher anschlage oder die Verbesserung der materiellen Wohlfahrt durch Reformen, die an
sich verfassungswidrig, doch das Beste des Landes bezweckten. Darum hat deuu auch das
josefinische System gerade in diesen Ländern die erste uud empfindlichste Niederlage erlitten.
Aber selbst in jenen Erblanden, welche nun schou seit geraumer Zeit absolutistisch
regiert wurden, hatten sich allmälig die verschiedenartigsten Elemente und Interesse» zu
einer Opposition geeinigt, welche kurz nach Josefs Tode wenigstens einen Theil seiner
Reformen zum Falle brachte. „Warum wird Josef von seinem Volke nicht geliebt?" So
lautet die Frage, welche sich der Verfasser einer gleichzeitigen Brochure aufwirft und die
wir uus noch heute verwundert stellen, wenn wir an sie den Maßstab unserer heutigen
Anschauungen legen. In ihr birgt sich die ganze Tragik seines Lebens, die ihre Erklärung
in jenem verhängnißvolleu Zauberkreise findet, der den Kaiser von seinen Völkern schied.
Josef war eine revolutionäre Natur, die nur dann Erfolge verzeichnen konnte, wenn und
insofern« sie für den unerschöpflichen Gähruugsstofs, den sie in das Staatsleben warf,
einen empfänglichen Boden vorfand. Dies war trotz mancher vorausgegangener Anregungen
von außen her nicht der Fall. Nur iu eiueui beschränkte» Kreise gebildeter Männer fanden
seine Ideen Anklang. Selbst das Räderwerk der Staatsmaschine, deren eomplicirten
Mechanismus eine Feder in Bewegung setzte, versagte ihm gelegentlich den Dienst, das
Volk aber wurde durch Josefs Neueruugeu überrascht; er fand keine tiefere Theilnahme,
kein Verständniß für eine Aufgabe, die er durch Befehle lösen wollte uud die doch uur das
Volk durch Selbstthätigkeit lösen kann. Unbegrissen standen sich Josef und seine Unter-
thanen gegenüber. „Sie hatten einen Adler", sagte die Kaiserin Katharina, „aber sie haben
ihn nicht erkannt." In diesem Sinne war Josef, der Sohn seiner Zeit, dieser doch voran-
geeilt. Es ist nicht richtig, wenn man in Josef blos den Nachahmer fremder Ideen erblicken
will. Wohl hatte er sich die Doctrinen des Zeitalters zu eigen geinacht, aber in seiner
scharf abgegrenzten Persönlichkeit nahmen sie alsbald ein individuelles Gepräge an und
entwickelten sich zu Consequeuzeu, welche erst eiue spätere Zukunft zur Reife briugeu sollte.
Josef starb mit einem großen Widerrufe, aber er hatte nicht umsonst gelebt. Unter
seinen wuchtigen Schlägeu ging eine alte Welt in Trümmer; die Gußform sauk uud das
moderne Österreich blinkte aus der zerbrochenen Hülle hervor. Einzelne seiner Reformen
blieben bestehe», an andere hat die Neugestaltung Österreichs iu uusereu Tageu angeknüpft.
Auch blieb ihn: die wen» auch erst spätere Anerkennung seines Wirkens nicht versagt. In
der Masse des Volkes, namentlich im Banernstande, der ihm so Vieles zu verdanken hatte,
verdichtete sich die Sehnsucht nach dem geliebten Kaiser zu der Sage, daß er nicht gestorben
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Übersichtsband, 1. Abteilung: Geschichtlicher Teil, Band 3
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Übersichtsband, 1. Abteilung: Geschichtlicher Teil
- Band
- 3
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.64 x 22.39 cm
- Seiten
- 278
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch