Seite - 113 - in Zur Genealogie der Moral
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einzugestehn! Welcher Aufwand an grossen Worten und Attitüden, welche
Kunst der »rechtschaffnen« Verleumdung! Diese Missrathenen: welche edle
Beredsamkeit entströmt ihren Lippen! Wie viel zuckrige, schleimige,
demüthige Ergebung schwimmt in ihren Augen! Was wollen sie eigentlich?
Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit
wenigstens darstellen – das ist der Ehrgeiz dieser »Untersten«, dieser
Kranken! Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz! Man bewundere
namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der
Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachgemacht wird.
Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, diese
Schwachen und Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel: »wir allein sind
die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, wir allein sind die homines bonae
voluntatis.« Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als
Warnungen an uns, – wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit, Stärke, Stolz,
Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büssen,
bitter büssen müsse: oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büssen
zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein! Unter ihnen giebt es in
Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort
»Gerechtigkeit« wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer
gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden
blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene
ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf
aus sind, »schöne Seelen« darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit,
in Verse und andere Windeln gewickelt, als »Reinheit des Herzens« auf den
Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und
»Selbstbefriediger«. Der Wille der Kranken, irgend eine Form der
Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer
Tyrannei über die Gesunden führen, – wo fände er sich nicht, dieser Wille
gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib in Sonderheit: Niemand
übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisiren. Das
kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Todtes, es gräbt die
begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«).
Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes
Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, – ein
stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit
tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-
Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die edle Entrüstung«
spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich
hörbar machen, das heisere Entrüstungsgebell der krankhaften Hunde, die
bissige Verlogenheit und Wuth solcher »edlen« Pharisäer (– ich erinnere
Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen
Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten
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Buch Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften