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MARQUIS Es genügt.
(Stille)
UNBEKANNTE Gebens mir, bitt schön, ein Glas Wasser!
MARQUIS (erhebt sich, schenkt ein und reicht es ihr)
UNBEKANNTE Danke! (sie trinkt aus)
MARQUIS Hats geschmeckt?
UNBEKANNTE Sehr.
MARQUIS Das ist die Hauptsache -- (er setzt sich und lächelt irr)
UNBEKANNTEN (wird wieder unsicher) Ich mag nämlich eigentlich keinen Alkohol.
(Stille)
MARQUIS (betrachtet sie) Und Sie wollen die Unbekannte spielen?
UNBEKANNTE Ja.
(Stille)
MARQUIS (wie zuvor) Die war anders.
UNBEKANNTE (wird immer unsicherer) Wenn ich mich anders frisiere --
MARQUIS Nein. Ich meine, da drinnen -- (er deutet auf sein Herz)
UNBEKANNTE Das ist mein Fach.
(Stille)
MARQUIS (fixiert sie) BSchämen Sie sich nicht?N
UNBEKANNTE BWieso?N
(Stille)
UNBEKANNTE (sehr unsicher, möchte irgendetwas sagen) Und --
MARQUIS (fällt ihr scharf ins Wort) Und?! (er erhebt sich und geht auf und ab) Es ist
mir bewusst, dass ich leichtfertig annahm, Sie müssten alles wissen, was ver-
borgen bleiben sollte. Da ich mich aber nunmal in diese Situation manövriert
habe, wünsche ich keineswegs, dass sich die Legende auch meiner Person be-
mächtigt, ich will eine verlorene Position nicht länger verteidigen und ziehe die
Wahrheit vor. Hören Sie: vor einem Menschenalter arbeitete hier im Hause, in der
Gärtnerei, ein Mädchen. Der alte Bientôt, über den Sie vorhin erschraken, war da-
mals noch keine Mumie. Er war ihr Chef -- und der Einzige unter der Diener-
schaft, der sie nicht immer prügelte, mit Worten, Blicken und sogar in der Tat. Sie
hatte keine Eltern, keine Freunde -- niemand. Sie kam aus dem Heim zum guten
Hirten.
UNBEKANNTE Ist das ein Waisenhaus?
MARQUIS Nein, das ist eine Korrektionsanstalt für verwahrloste weibliche Jugendli-
che. Die gesamte Dienerschaft, ausser, wie gesagt, jene Mumie, fühlte sich durch
die Anwesenheit dieses Mädchens beleidigt, entehrt, beschimpft, und gab es ihr
tausendmal kund. Aber sie trug jede Kränkung, allen Spott und Schimpf mit hei-
liger Geduld. Ich war überzeugt von ihrer absoluten Anständigkeit. Um ihre Pei-
niger zu beschämen, gab ich ihr eine Gelegenheit, ihre Ehrlichkeit beweisen zu
können: ich sandte sie in die Stadt, eine grössere Summe auf der Bank abzuholen.
Den ganzen Tag wartete ich. Sie kam erst spät in der Nacht und -- hatte das Geld
verloren. Erschüttert glaubte ich ihr kein Wort. Hier in diesem Raume, da, da
schrie ich es ihr ins Gesicht und jagte sie vor versammelter Dienerschaft aus dem
9 BUNBEKANNTEN] korrigiert aus: UNBEKANNTE:Y
19 BSchämenf nicht?N] [Schämenfnicht?]
20 BWieso?N] [Wieso?] [\Ich bin doch eine naive Sentimentale –/]
B
ÖLA3/W 64 –
BS 52, Bl. 64
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40 Fragm. Endfassung Mit dem Kopf durch die Wand K3/TS21 (Korrekturschicht)
Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
Historisch-kritische Edition, Band 2
- Titel
- Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
- Untertitel
- Historisch-kritische Edition
- Band
- 2
- Autor
- Ödön von Horváth
- Herausgeber
- Klaus Kastberger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-058470-7
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 610
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Das unbekannte Leben Mit dem Kopf durch die Wand
- Vorwort 333
- Lesetext 351
- Vorarbeit: Die Unbekannte der Seine 353
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in fünf Akten, emendiert) 675
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 735
- Mit dem Kopf durch die Wand. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 785
- Kommentar 829
- Chronologisches Verzeichnis 831
- Übersichtsgrafik 891
- Hertha Pauli: L’inconnue de la Seine 905
- Anhang 909
- Editionsprinzipien 911
- Siglen und Abkürzungen 920
- Literaturverzeichnis 923
- Inhalt (detailliert) 927