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das militär. in den höchsten regionen herrscht eine complete Anarchie. nie-
mand weiß, wer koch wer kellner ist, der vicekönig (der neulich ausgezischt
wurde), ficquelmont, radetzky, spaur, keiner hat vollmachten, jeder schiebt
die schuld auf die Andern. der erzherzog benimmt sich als misérabler hunds-
fott, der er immer gewesen, und will das Beyspiel erzherzog ferdinands in
gallizien wiederholen.1 Am 9. hat das vieh eine zweyte Proclamation erlas-
sen, welche Allem die krone aufsetzt, er désavouirt darin das Benehmen des
militärs, sagt, daß er der alleinige herr in lombardo-venezien sey (was schon
gar nicht wahr ist), und verspricht abermals und bestimmt reformen. ist das
eine sprache nach dem, was vorgefallen ist? es ist möglich, daß bey größe-
rer klugheit die excesse vom 3. einige tage lang hätten vermieden werden
können,2 wenn man nähmlich nach der am 2. vorgefallenen insultirung von
offizieren und soldaten diese letztern consignirt hätte, statt sie am 3. absicht-
lich auf die straße zu schicken. Aber nachdem dieß einmal geschehen ist, so
ist nichts taktloser und gefährlicher, als der Population gegen das militair
recht zu geben, namentlich da die erste und sanglanteste Provocation vom
volke ausging. Auch ist mailand nichts weniger als ruhig, es wimmelt von
uniformirten Bauern und verdächtigem gesindel, welches im solde einzelner
steht, und ich bin überzeugt, daß wir nächstens neues erleben werden. Am
2. und 3. hat es allein in den spitälern 132 Blessirte und todte gegeben. ra-
detzky hat neipperg als courier nach Wien geschickt, der übrigens auch nicht
der mann dazu ist, um den leuten eine besonnene klare Ansicht der lage zu
geben, wäre ich radetzky, ich würde dem erzherzog 2 schildwachen vor die
thür stellen und sagen: seine kaiserliche hoheit sind krank.
in Padua sieht es übrigens noch weit kritischer aus als hier, es gibt fast
täglich Zusammenstöße zwischen civil und militär, auf allen häusern steht
das ewige viva Pio nono, dazu aber noch mannshoch morte ai tedeschi etc.
resi Pallavicini fand ich, obwol hochschwanger, recht gut aussehend und
so vergnügt, als es unter den jetzigen verhältnissen besonders in ihrer lage
seyn kann. so eben erhalte ich durch erzherzog Albrecht, welcher diese
nacht angekommen ist, um der Bestattung seines Bruders friedrich beyzu-
wohnen, abermals ein Paket mit Briefen etc. aus Böhmen, schlechte nach-
richten, die leute gehen auf die Jagd und kümmern sich um nichts. dobl-
hoff ist noch nicht dort gewesen, das Bischen Bewegung, das sich dort noch
erhält, geht rein von f. deym und von mir aus. deym hat übrigens meine
1 erzherzog ferdinand karl wurde vielfach große schuld am Ausbruch des galizischen Auf-
stands von 1846 gegeben. er trat darauf als Zivil- und militärgouverneur von galizien
zurück.
2 die unruhen entzündeten sich an einem militanten Boykott österreichischer Zigarren als
Protest gegen das tabakmonopol (mailänder Zigarrenrummel), vgl. eintrag v. 9.1.1848.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien