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März 1848
schusse geschehen werde. ich finde, daß die Presse sich mit diesem gegen-
stande, dem wichtigsten von allen, viel zu wenig beschäftigt, während sie
andererseits eine menge dinge anregt, welche jetzt noch vor der Zeit oder
doch bey weitem weniger dringend sind. moering arbeitet wacker und schüt-
telt ein flugblatt nach dem andern aus dem Ärmel, daß er viel talent und
einen sehr richtigen Blick in der Politik hat, ist nicht zu läugnen, und seine
Productivität ist unglaublich.
An Projekten zu Zeitungsunternehmungen fehlt es nicht, und ich werde
von allen seiten angegangen, die beyden Projekte, welche mir die größten
garantieen zu versprechen scheinen, sind von dr. siegfried Becher und das-
jenige von neumann und sommaruga, ich suche nun, diese Beyden in eines
zu verschmelzen, da die tendenz beyder so ziemlich dieselbe ist. neulich war
bey sommaruga eine conferenz wegen dieser zweyten unternehmung, und
man wollte mich durchaus zum hauptredacteur oder wenigstens meinen
nahmen als Aushängeschild haben. dazu kann ich mich aber nicht recht
entschließen, und es ist dieses ein grund mehr, warum ich die vereinigung
mit Becher wünsche, welcher dann hauptredacteur bliebe. Als mitglied des
leitenden comités habe ich übrigens meine mitwirkung zugesagt.
ich werde wirklich von allen seiten geplagt, so mußte ich gestern zu einer
langweiligen pietistischen nordpreußinn, einer gräfin Poninska geb. dohna,
welche ein Buch über gutsherrliche verhältnisse, die sie für einen Ausfluß
der göttlichen Weltordnung erklärt, geschrieben hat1 und nun meine Ansich-
ten erfahren wollte, ich scandalisirte sie entsetzlich und hoffe, nun ruhe zu
haben, übrigens ist sie in einer Art verzückung über meinen 1. theil und
brachte ein exemplar zum vorscheine voll striche, Bemerkungen und esels-
ohren.
hier ist sonst leider nicht viel geschehen, als daß die regierung den staats-
haushalt der letzten Jahre summarisch veröffentlichte, ein sehr lobens-
werthes unternehmen, daß das Polizeyministerium abgeschafft worden ist.
[Wien] 31. märz
heute hatten die croaten, slavonier, dalmatiner, überhaupt illyrier Audi-
enz beym kaiser, ich sah den Zug, mehrere hundert menschen in den ver-
schiedensten trachten, soldaten, offiziere, Bauern, geistliche, Bischöfe,
edelleute in ungarischer und illyrischer tracht etc., die fahnen der 3 könig-
reiche2 voran. gaj war ihr sprecher, sie statteten nachher den hiesigen stän-
1 Die früheste feststellbare Publikation von Gräfin Adelheid Poninski, geb. Gräfin Dohna
stammt aus 1854. ihr mann graf Adolf Poninski veröffentlichte Arbeiten über spiritismus.
2 das historische „dreieinige königreich“ kroatien, slawonien und dalmatien, dessen verei-
nigung das Ziel der kroatischen Bewegung war.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien