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673.
April 1848
fenstern des kaisers, welcher mit der kaiserinn oben erschien, mit endlo-
sem Jubel und Anreden begrüßt wurde, selbst ein paar Worte sprach und
zum schlusse die deutsche fahne zum fenster hinaus hängte, wo sie bis
Abend hängen blieb.
gestern gegen 3 ging ich mit lamberg zu gaj, dem großen illyrischen
volksredner und Autokraten der jetzt hier anwesenden deputation. Wir
fanden ihn umringt von Polen, croaten, slowaken und der neuen böhmi-
schen deputation (welche letztere noch fanatischer als die erste zu seyn
scheint), er bath uns zu bleiben, indem er unsere Ankunft als eine fügung
gottes ansehe, und nun begann die conferenz, stehend, zwey stunden lang,
aber höchst interessant und zuweilen wahrhaft ergreifend, er nahm einen
(höchst merkwürdigen) Aufsatz des gestrigen Beobachters zur Basis, worin
als einzig mögliche chance eines fortbestands der österreichischen monar-
chie die form als Bundesstaat erklärt wird und zugegeben wird, daß jede
dieser verschiedenen nationalitäten sich nebstbey noch mit den außerhalb
oesterreich stehenden staaten desselben stammes zu einem Bunde vereini-
gen könne und solle, gerade so wie wir deutschösterreicher mit dem übrigen
deutschland, wobey freylich le dernier mot, d.h. das dereinstige Auseinan-
derfallen oesterreichs, nicht ausgesprochen ist.1 Auf dieser Basis, meinte
gaj, und mit ihm alle Anwesenden, wollten sie sich gerne an die österreichi-
sche monarchie schließen (die Polen sagten es sogar ausdrücklich: nur bis es
einst möglich wird, ein freyes königreich Pohlen [sic] wieder zu gründen),
auf einer andern aber nicht, eine interessante Zwischendébatte erregte stúr
über die stellung der slowaken in ungarn. die Böhmen, der vulgäre faster
an der spitze, machten einen heftigen Ausfall auf die gestrigen germani-
schen demonstrationen, worauf lamberg kräftig replicirte und überhaupt
sehr gut sprach, ich verhielt mich mehr passiv und wollte nur hören, nicht
sprechen. die ganze scene war ziemlich aufregend, und ich bin mit wenig
1 oesterreichische Zeitung (so hieß seit 1.4.1848 der bisherige oesterreichische Beobachter)
v. 1.4. (nicht 2.4.) 1848, 441f.: die völker oesterreichs. Als grundlagen der neugestaltung
österreichs als „föderativstaat“ werden darin genannt die selbstverwaltung jeder nation
durch eigene Behörden (finanziell, militärisch, administrativ) inklusive der Übernahme
eines entsprechenden teils der staatsschuld und der anteiligen kosten der hofhaltung
und der Zentralangelegenheiten, nationale streitkräfte, die nur im fall einer Bedrohung
von außen eine gemeinsame gesamtstaatliche Armee bilden sollten, und ein verteidigungs-
bündnis mit dem deutschen Bund (dessen mitglied die deutschen Provinzen österreichs als
selbständiger organischer Bestandteil seien). „man lasse sich loslösen, was nicht zusam-
men bleiben kann. man lasse frei, was nicht mit vollem herzen mit uns zusammenhängen
will, und seiner natur nach zusammenhängen muß. – man scheide die nationen und lasse
sie gewähren, da es vergeblich ist, sie in der gegenwärtigen vereinigung zu erhalten. dazu
reicht keine macht der Waffen hin, und keine staatscasse kann dazu die mittel herbei-
schaffen!“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien