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70 Tagebücher
[Wien] am ostersonntag 23. April
ich war diese ganze Zeit so gehetzt, daß ich trotz der drängenden ereignisse
nicht regelmäßig niederschreiben konnte, ich trage daher kurz nach.
Am 5. Abends 7 uhr reisten wir ab, die Andern im festlichen Zuge, zu
fuße, fahnen, nationalgarde etc. bis zum Bahnhofe, ich, der den Braten
gerochen hatte, ganz einfach in meinem fiaker. die Bahndirection gab uns
einen eigenen Wagen und zwar gratis, vor der Abfahrt noch speeches, hochs
etc., dieses selbe spectakel wiederholte sich tags darauf durch ganz schle-
sien, in Breslau, liegnitz etc. in görlitz mußten wir übernachten, da kein
nachttrain ging. in dresden stiegen wir mit unsern dreyfarbigen schärpen
wie die hanswurste herum und wurden für freywillige nach schleswig ge-
halten, frühstückten allesammt auf der Brühlschen terrasse und machten
überhaupt möglichst viel Aufsehen, wofür der unausstehliche Jude kuranda
nach kräften sorgte. in leipzig ähnliches, in Weimar mußten wir aus dem
obigen grunde wieder übernachten und in stockfinstrer nacht auf grundlo-
sen Wegen in das langweilige nest wandern, wofür wir uns beym einzuge
durch einen heillosen lärmen rächten, so daß ganz Weimar aus den Betten
fuhr. da gab es wieder reden, patriotische gesänge, Jenenser studenten etc.
unterwegs kauften wir allenthalben Zeitungsblätter und erfuhren so, wie
wir frankfurt näher kamen, immer neueres von der versammlung. Als wir
Wien verließen, hofften wir sie noch beysammen zu treffen, erfuhren aber
dann bald ihre Auflösung und die Bestellung eines fünfziger Ausschusses, in
Weimar las ich in der Zeitung meine Wahl in diesen Ausschuß, und ich ge-
stehe, daß mich diese Anerkennung schmeichelte. Auch meine collegen und
reisegefährten lernte ich besser kennen, die meisten hatte ich früher nie ge-
sehen, und wie wir uns so näher bekannt wurden, natürlich immer und ewig
von dem gegenstande unserer sendung sprechend und debattirend, so grup-
pirten wir uns nach und nach. mein mann war endlicher, ein würdiger ruhi-
ger braver mann, gelehrter, doch ohne große politische portée (ich schob ihn
denn bey jeder gelegenheit vor als prête-nom und porte-étendard). mühlfeld,
der gescheidteste kopf und scharfer dialectiker, doch von vulgären formen.
schilling, der sich und den man hier für einen republikaner hielt, der aber
mit jedem tage handfrommer wurde, als er die lage der dinge draußen
sah. hornbostel, ein ehrlicher braver junger mann.1 gerold, ein detto alter
kerl. Auersperg, trotz seines dichternamens eine unbedeutende personage,
der sich von kuranda enfiliren ließ. schuselka eine gutmüthige ehrliche,
schwärmerische, nicht gefährliche Art von einem republicaner. somma-
ruga, ein guter, entsetzlich eitler und langweiliger schwätzer. schmerling
bekannt. Jurist schneider, ein langweiliger selbstzufriedener emphatischer
1 theodor hornbostel, geboren 1815, war nur zwei Jahre jünger als Andrian.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien