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74 Tagebücher
entwarf das Wahlgesetz, welches auch, wiewohl leider mit modificationen,
angenommen wurde. eine andere idee, welche aber leider keinen eingang
fand, war, nach diesem gesetze sowohl die Wahlen für frankfurt als die für
Wien gleichzeitig vornehmen zu lassen, den hiesigen reichstag noch vor dem
frankfurter zu eröffnen, die constitution feyerlich zu beschwören, und sie
sodann (da wahrscheinlich ein großer theil der mitglieder für beyde reichs-
tage zugleich gewählt wird) bis zum schlusse des frankfurter tages zu pro-
rogiren, resp. comités zur vorbereitung der einzelnen gesetzentwürfe aus
denselben niederzusetzen. ich kann mich noch nicht darüber trösten, daß
dieser idee keine folge gegeben wurde.
gleich nach meiner rückkehr ging ich in den juridisch-politischen lese-
verein (welcher eine puissance geworden ist) und stattete über meine reise
Bericht ab, ein gleiches mußte ich tags darauf auf die einladung einer de-
putation in der Aula der universität vor ihren majestäten den herrn stu-
denten thun.
der Zustand ist übrigens hier so ziemlich derselbe wie vor 14 tagen, näm-
lich Anarchie und straßenherrschaft, eine masse von hetzern, größtentheils
fremde, bearbeiten die studenten und die Proletarier, der gefährlichste von
ihnen, ein dr. schütte, wurde endlich neulich weggeschafft, was wieder bald
einen sturm erregt hätte. die unsinnigsten gerüchte werden geglaubt, die
Presse ist zügellos und zieht namentlich den Adel in den koth herab, obwohl
sich dieser jetzt ganz gut benimmt, de facto ist kein Preßgesetz vorhanden,
nachdem das neulich erschienene fallen gelassen wurde, die regierung hat
weder kraft noch muth. Wäre nicht soviel gesunder sinn in unserer Bevöl-
kerung, so wäre man seines lebens und eigenthums nicht sicher.
übermorgen wird die constitution erscheinen, auch darüber herrscht
nun eine heftige discussion: ob eine oder zwey kammern? die heftigen, die
theoretiker, studenten etc. sind für eine kammer, es ist unglaublich, was
man unreifes gewäsch hört. Wir sind wirklich noch politische kinder, wie
ich es voraus sagte. mich ärgert besonders das halloh gegen den Adel, wel-
ches in allen den schlechteren Blättern losgeht, obwol dieser sich durchaus
tadellos benimmt. neulich sandte dr. Becher auf meinen Wunsch einen der
wüthendsten scribenten dieser Art, nahmens Warneck, von dem ich einen
Aufsatz in manuscript gelesen hatte, und ich fand da ein manierliches jun-
ges Bürschchen; ich hoffe, ihn wenigstens theilweise umgestimmt zu haben.
[Wien] 30. April
ich befinde mich hier in einer solchen hetze, daß ich kaum zu Athem
komme, von 9 bis 4, dann von 7 bis spät Abends sitze ich im comité und habe
mir meine herrn nach und nach so ziemlich dressirt, besonders brauchbar
ist dr. Würth, der als sekretär fungirt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien