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Tagebücher106
an jenem tage eine landparthie zu machen. überhaupt soll sich unter ih-
nen eine scission bilden, da Arnold ruge, der urdeutsche narr, selbst für r.
Blum zu extrem wird. ersterer hat dieser tage ein ganz lächerliches Pro-
gramm „der radical-democratischen Partey“ veröffentlicht. ich habe in je-
ner richtung einen Antrag „auf verboth aller volksversammlungen im um-
kreise von 4 meilen für die dauer der sitzungen der nationalversammlung“
gestellt, oder eigentlich, da ich als vicepräsident nicht wohl selbst einen sol-
chen stellen kann, durch Jürgens stellen lassen. da aber venedey von der
linken selbst schon früher einen ähnlichen gestellt hatte, so haben wir es
für passender gehalten, diese odiose sache der linken zu überlassen, und
wollen ihn daher nicht einbringen, nur habe ich veranstaltet, daß er näch-
ster tage zur verhandlung kommen wird.
im verfassungsausschusse wird stark gearbeitet, doch schreiten wir äu-
ßerst langsam fort, wir haben bis jetzt erst die religiöse freiheit und das
volksschulwesen zu ende gebracht, es wird entsetzlich viel gesprochen,
und man will Alles mögliche in den Bereich der constituirenden versamm-
lung ziehen, wogegen ich mich nach kräften wehre und vieles den einzelnen
staaten oder dem künftigen nationalparlamente überlassen wissen möchte,
nebstdem haben wir einen überfluß von theoretikern und Professoren, un-
ter diesen ernsten leuten bildet der gemeine lichnowsky einen drolligen
gegensatz. übrigens sind diese sitzungen für mich unendlich interessant
und lehrreich.
heute aß ich in homburg mit schmerling, nobili etc., es war ein recht an-
genehmer nachmittag. An einladungen etc. fehlt es mir hier nicht, nament-
lich seit ich ein stück Präsident geworden bin, ganz unbekannte leute laden
mich zu gesellschaften ein, wo gagern und ich figuriren müssen. Auch ein
Porträtmahler hat sich schon gemeldet, etc.
[frankfurt] 5. Juni
heute setzte es einen furchbaren sturm in der nationalversammlung ohne
alle vernünftige ursache. die frage wegen der Ausschließung der Posener
deputirten kam vor,1 und es war der ganz natürliche, auf der geschäfts-
ordnung basirte Antrag, dieselbe einer commission zur Begutachtung zu
überweisen, die opposition war natürlicher, obwol sehr undeutscher Weise
für sofortige Ausschließung derselben. Plötzlich rannte venedey, sonst ein
1 Auslöser dieser debatte war ein Protest des polnischen nationalcomités gegen den ein-
tritt der Abgeordneten aus den deutschen teilen der preußischen Provinz Posen, da sie als
teil des historischen königreichs Polen nicht teil des deutschen Bundes sei. die darauf
eingebrachten Anträge reichten von unmittelbarer definitiver Beglaubigung über eine pro-
visorische teilnahme bis zur klärung der verfassungsrechtlichen stellung Posens bis zum
sofortigen Ausschluss der betroffenen Abgeordneten.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien