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Juli 1848
macht, und sie fürchten für ihre selbstständigkeit, es wird sich jetzt nach
und nach das für einen constituirenden reichstag wie dieser allein natür-
liche verhältniß der Parteyen herausstellen, nämlich das der centralisten
und der föderativen, und da werden wahrscheinlich (wenn wir oesterrei-
cher nicht wieder aus dummheit auseinandergehen) die großen staaten,
die eine geschichte und eine stellung zu verlieren haben, auf der einen,
die kleinen auf der andern stehen. dieses macht sich nun schon im verfas-
sungsausschusse bemerkbar, wo wir seit 2 tagen den 2. theil der verfas-
sung: über die competenz der reichsgewalt, berathen, der entwurf ist so
centralisirend, daß wir (oesterreicher, Preußen etc.) ihn so nimmermehr
annehmen werden. heute war eine sehr hitzige debatte über die völker-
rechtliche vertretung deutschlands nach Außen, welche der entwurf aus-
schließlich der reichsgewalt vindicirt, ich und mit mir fast alle Preußen
sprachen sich sehr entschieden dagegen aus, und wir trennten uns in gro-
ßer Aufregung und ohne Beschluß.
ich habe seit einiger Zeit eine noch unausgekochte idee in mir, wonach
oesterreich die leitung der auswärtigen, Preußen die der militärischen An-
gelegenheiten für deutschland übernähmen, und zwar von Wien und Ber-
lin aus, jedoch unter verantwortlichkeit des betreffenden ministers gegen
die Nationalversammlung, da fiele dann freylich das Bundesoberhaupt in
frankfurt oder sonst irgendwo weg. Wie werden wir da heraus kommen? es
ist nothwendig, daß wir uns schon jetzt darüber klar werden, wie weit wir
in der centralisation gehen wollen, und uns nicht, wie dieses im Plane der
linken liegt, unvermerkt und stufenweise verwickeln lassen, um am ende
da anzukommen, wohin wir nie gelangen wollen. es entfällt mir manchmal
aller muth, eine eigentliche liebe und Begeisterung für die deutsche sache
habe ich nie gehabt (denn diese habe ich ausschließlich für oesterreich),
und daher fühle ich mich unter meiner hiesigen Aufgabe. Andererseits ist
sie aber so unendlich wichtig, daß ich doch nicht weiß, ob ich mich würde
entschließen können, vor dem ende den hiesigen kampfplatz zu verlassen.
erzherzog Johann hat mir neulich den gesandtenposten in london für oe-
sterreich und für das deutsche reich zugesagt, eigentlich angetragen, ich
will die sache an mich kommen lassen und mich dann erst entscheiden.
in der versammlung werden die grundrechte breit und langweilig be-
rathen, unter der masse von Amendmens ist ein schluß nicht abzusehen.
gestern aß ich in soden bey Berens, dem sohne der frau v. tettenborn,
die ich zum erstenmahle seit dem tode ihres mannes wieder sah, wie eine
erinnerung aus einer andern, längst verschwundenen Welt. später machte
ich mit Gräfinn Bergen, Menshengen etc. eine Promenade und fuhr mit
ihnen nach frankfurt zurück.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien