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März 1854
kreuz dabey soll geschlagen haben. dieses loch wird, damit es die christen
nicht küssen sollten, von den türken angespieen.
übrigens herrscht, soviel ich sah und hörte, mit dieser einzigen Aus-
nahme von seite der türken die äußerste toleranz, zum unterschiede von
der intoleranz der einzelnen christlichen confessionen. Auch die türken
verehren Jesum als einen Propheten, und Jerusalem ist ihnen die dritte
heilige stadt.
noch sah ich in der stadt den halbverfallenen hof des Johanniterhospi-
zes, den thurm davids, das haus des lazarus und des reichen Prassers,
lauter dinge natürlich, die man cum grano salis nehmen muß, die grotte
des Jeremias etc., wunderbar wenig erübrigt aus der Zeit der kreuzzüge
und der abendländischen könige. einige Aussätzige sah ich auch, diese bib-
lische krankheit existiert, glaube ich, nur hier.
Nachher machte ich noch einen des späten Abends wegen nur flüchtigen
Besuch in der heiligen grabkirche.
die stadt ist scheußlich, schmutzig, glatt, halsbrecherisch, das Wet-
ter ist kalt und feucht, vor wenig Tagen fiel haushoher Schnee, wovon
ich noch den koth zu sehen bekam, in meiner ärmlichen Zelle im kloster
und dem schlechten essen, welches ich daselbst am 1. und 2. tage erhielt,
war mir recht unbehaglich, nun aber bin ich in Pizzamanos hause wie in
Abrahams schooß, obwohl auch da ein ziemliches dérangement durch die
fieber herrscht, an denen in diesem feuchten kalten ungesunden clima
Alles leidet, die Frau vom Hause, eine sehr liebenswürdige Frau, befindet
sich nebstbey noch in sehr vorgerückter schwangerschaft, kurz, Jerusalem
scheint kein angenehmer Aufenthalt zu seyn, und mir, der ich aus dem ge-
segneten egypten komme, erscheint es schmutzig, naß und kalt, als wäre
ich in irgend einem polnischen städtchen.
vorgestern machte ich mit Pizzamano dem superior, der gleich am 15.
bey mir gewesen war, einen gegenbesuch, besichtigte dann das kloster, die
druckerey, an deren spitze ein Pater Andreas aus eger steht, etc., dann
besuchten wir die armenische kirche und den armenischen Patriarchen in
seinem prachtvollen Palais, der gute alte herr traktirte uns mit allen mög-
lichen orientalischen Leckereyen, Zuckerwerk, Confituren etc.
Am selben Abende ereignete sich in der casanova der unfall, daß ein böh-
mischer Büchsenmacher, der u.a. auch meine gewehre und Pistolen zu put-
zen hatte, unglücklicherweise einen galizischen schneidergesellen maustodt
schoß, der schuß ging (beym Putzen) dem armen teufel gerade durchs herz.
gestern holte ich Pater Andreas in seiner druckerey ab und ging mit ihm
in die heilige grabkirche, die ich in allen détails besichtigte, der calvarien-
berg, die unterirdische capelle der heiligen helena, die flagellationssäule,
der ort wo longinus stand, wo sie über christi kleider würfelten, wo er ge-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien